Frühjahr-Herbst 1871 13 [1-7]
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Und was sollen wir vor allem von den Griechen lernen? Durch unsere Philosophie nicht zum thatlosen Ausruhen, durch unsere Musik nicht zu orgiastischen Wesen zu werden? Vor dem Buddhaismus soll uns die Tragödie, vor dem Musikorgiasmus ebenfalls der Mythus in der Tragödie retten.
Das Volk der Perserkriege braucht die Tragödie.
Beispiel zu geben am Tristan, dritter Akt: welke Müdigkeit, zitternde Hand des Sterbenden, Verhauchen in Seufzern. Die Sehnsucht nach der Urheimat: der Kuhreigen der Metaphysik. “Sehnen—sterben,” krampfartiges Ausspannen der Seele, um zu flüchten, Hervorbrechen der Flügel.
Der Mythus stellt jetzt, zu unserer Beschwichtigung, das Bild dazwischen und das Wort.— Die Helden des Mythus sind Atlas ähnlich, sie tragen die Welt auf ihrem Rücken. Sie entlasten uns.— Wir begreifen hier, weshalb die Musik nach Bildern verlangt. sie will den heilenden Apollo. Das ist das Verhältniß des Dramas zur Musik.
Wir haben diesen Prozeß in größter Reinheit erlebt: jetzt erst verstehen wir die Tragödie in ihrer Bedeutung für die musikschwangere griechische Luft. Aus ihr geboren, um sie zu heilen. Jetzt verstehen wir, warum die in fortwährender Musik erzogenen Griechen um sich herum die herrlichsten Bildwerke hatten.
Wir, in der höchsten Begabung der Musik, sehen darin die einzige allgemeine Kunsthoffnung. Die Musik hat uns wieder den Mythus geboren: damit ist der Geist der Wissenschaft unterlegen. In allen Künsten sind wir die Kritiker: hier in der Musik sind wir noch volle lebendige Menschen. Hier liegen alle Hoffnungen.
An den Griechen können wir lernen, was wir selbst erfahren. Sie deuten uns unsre Erlebnisse. Sophokles wird von Asklepios besucht. So haben wir die Wagnersche Wiedergeburt der Tragödie zu verstehen. Aus sokratischen Menschen sollen wir wieder tragische Menschen werden—und für uns Deutsche ist das eine Wiederbringung aller Dinge, Unsere Perserkriege haben kaum begonnen.
Allein in der Musik sind wir noch nicht wissenschaftliche historische Menschen—wir leben noch bei Palestrina: ein Beweis, daß wir hier wirklich lebendig sind.
Deshalb steht das größte deutsche Kunstfest in Bayreuth einzig da: hier feiern die tragischen Menschen ihr Weihefest, zum Zeichen daß eine neue Kultur beginnt. Ein Zurückstreben zur Gesundheit.
Die Stellung des tragischen Menschen zum Wissen: er strebt nach der tiefsten Tiefe und läßt sich durch keine Erkenntniß—Illusion zurückschrecken, auch nicht in der Breite aufhalten—denn er hat sein wahres Mittel, das Dasein zu ertragen. Rücksichtslose Wahrheit.