Frühjahr-Sommer 1874 35 [1-14]
35 [14]
Ich pflege deshalb als die Wurzeln dieser jetzigen gesammten zeit- und werdefreundlichen Cultur zweierlei zu betrachten und zu unterscheiden: einmal die üppige Richtung der Gesellschaft auf Erwerb und Besitz, sodann die kluge Selbstsucht des modernen Staates. Erdenglück: so heisst in beiden Fällen der Köder, mit dem die Cultur in das Netz gelockt wird; der reiche und mächtige Mensch, die freie Persönlichkeit, der Culturstaat—das sind die Verheissungen, mit denen unsre Zeitgenossen betrogen werden sollen. Dass es sich nämlich hier um Betrug handelt, überkommt uns sofort wie eine Offenbarung, wenn wir nur einen Augenblick in jene Höhle niedergestiegen sind, in welcher wir die Wurzeln der ächten, weltfeindlichen Cultur sehen können.
Die tieferen Menschen haben zu allen Zeiten gerade deshalb Mitleid mit den Thieren gehabt, weil sie am Leben leiden und doch nicht die Kraft besitzen, den Stachel des Leidens wider sich selbst zu kehren und ihr Dasein metaphysisch zu verstehn; und es empört im tiefsten Grunde, das sinnlose Leiden zu sehen. Deshalb entstand nicht nur an einer Stelle der Erde die Vermuthung, dass die Seelen schuldbeladner Menschen in diese Thierleiber gesteckt seien und dass jenes auf den nächsten Blick empörende sinnlose Leiden vor der ewigen Gerechtigkeit sich in lauter Sinn und Bedeutung, nämlich als Strafe und Busse, auflöse. Wäre aber eine härtere Strafe zu ersinnen, als dergestalt unter Hunger und Begierde als Thier zu leben und gar nicht zur Besonnenheit über das Leben zu kommen, als Raubthier zum Beispiel von der nagendsten Qual durch die Wüste gejagt zu werden, selten befriedigt und auch dies nur so, dass die Befriedigung zur Pein wird, im zerfleischenden Kampfe mit andern Thieren oder durch ekelhafte Gier und Übersättigung. So blind und toll am Leben zu hängen, um keinen höheren Preis, ferne davon zu wissen, dass und warum man so gestraft wird, sondern gerade nach dieser Strafe wie nach einem Glücke mit der Dummheit einer entsetzlichen Begierde zu lechzen—das heisst Thier sein; und wenn die Natur sich zum Menschen hindrängt, so fühlt sie, dass er zu ihrer Erlösung nöthig ist und dass in ihm das Dasein sich einen Spiegel vorhält, auf dessen Grunde das Leben nicht mehr sinnlos, sondern in seiner metaphysischen Bedeutsamkeit erscheint. Doch wo hört das Thier auf, wo fängt der Mensch an! Solange jemand nach dem Leben wie nach einem Glücke verlangt, hat er den Blick noch nicht über den Horizont des Thieres hinausgehoben, nur dass er mit mehr Bewusstsein will, was das Thier im blinden Drange sucht—das heisst, wir verbringen Alle den grössten Theil unsres Daseins in der Thierheit, wir selbst sind die Thiere, welche sinnlos zu leiden scheinen.
Aber es giebt Augenblicke, wo die Wolken zerreissen und wo wir uns, sammt aller Natur, zum Menschen hindrängen. Schaudernd blicken wir, in jener plötzlichen Helle, um uns, rückwärts: wir sehen die verfeinerten Raubthiere rennen, uns mitten unter ihnen. Die ungeheure Bewegtheit der Menschen auf der grossen Erdwüste, ihr Städte- und Staatengründen, ihr Kriege-führen, ihr rastloses Sammeln und Auseinanderstreuen, ihr Durcheinander-Laufen, von einander Ablernen, Ablisten, ihr gegenseitiges Überlisten und Niedertreten, ihr Geschrei in Noth, ihr Lustgeheul im Sieg—alles ist Fortsetzung der Thierheit: als ob der Mensch absichtlich zurückgebildet und um seine metaphysische Anlage betrogen werden sollte, ja als ob die Natur, nachdem sie solange den Menschen ersehnt und erarbeitet hat, nun vor ihm zurückbebte und lieber wieder zurück in die Unbewusstheit des Triebes wollte. Ach, sie braucht Erkenntniss, und ihr graut vor der Erkenntniss, die ihr eigentlich Noth thut; und so flackert die Flamme unruhig und gleichsam vor ihrer Aufgabe erschreckt, hin und her und ergreift tausend Dinge zuerst, bevor sie das ergreift, dessentwegen überhaupt die Natur der Erkenntniss bedarf. Wir wissen es Alle in einzelnen Augenblicken, wie die weitläuftigsten Anstalten unseres Lebens nur gemacht werden, um vor unserer eigentlichen Aufgabe zu fliehen, wie wir gerne irgendwo unser Haupt verstecken wollen, als ob uns dort unser hundertäugiges Gewissen nicht erhaschen könne, wie wir unser Herz an den Staat oder den Geldgewinn, die Wissenschaft, die Geselligkeit hastig wegschenken, bloss um es nicht mehr zu haben, wie wir selbst der schweren Tagesarbeit hitziger und besinnungsloser fröhnen, als nöthig wäre um zu leben—weil es uns nöthiger scheint nicht zur Besinnung zu kommen. Allgemein ist die Hast, weil jeder auf der Flucht vor sich selbst ist, allgemein auch das scheue Verbergen dieser Hast, weil man zufrieden scheinen will und die scharfsichtigeren Zuschauer über sein Elend täuschen möchte, allgemein das Bedürfniss nach neuen klingenden Wort-Schellen, mit denen behängt das Leben etwas Festlich-Lärmendes bekommen soll. Jeder weiss aus seiner Erfahrung, wie plötzlich sich mitunter unangenehme Erinnerungen aufdrängen und wie wir dann durch heftige Gebärden und Worte bemüht sind, sie uns aus dem Sinne zu schlagen—aber die allgemeine Gestalt unseres Lebens lässt errathen, dass wir uns immer in einem solchen Zustande befinden: was ist es doch, was uns so häufig anficht, welche Mücke lässt uns nicht schlafen? Es geht geisterhaft um uns zu, jeder Augenblick des Lebens will uns etwas sagen, aber wir wollen diese Geisterstimmen nicht hören. Wir fürchten uns, wenn wir allein und stille sind, dass uns etwas in das Ohr geraunt werde; und so hassen wir die Stille und betäuben uns durch Geselligkeit. Der Mensch weicht nach Kräften dem Leiden aus, aber noch mehr der Deutung des erlittenen Leidens, in immer neuen Zielen sucht er das dahinten Liegende zu vergessen. Wenn der Arme und Geplagte sich gegen das Schicksal aufbäumt, welches ihn gerade an diese rauheste Küste des Daseins warf, so will auch er sich nur betrügen: er mag nicht in das tiefe Auge hineinsehen, das ihn aus der Mitte seines Leidens fragend anblickt, als ob es sagen wollte: ist es dir nicht leichter gemacht, das Dasein zu begreifen? Jene scheinbar Beglückteren, die sich in Unruhe und Flucht vor sich selbst verzehren, um nur ja nicht die natürliche böse Beschaffenheit der Dinge, des Staates zum Beispiel oder der Arbeit oder des Eigenthums, zugeben zu [+ + +]