September 1888 19 [1-11]
19 [1]
[1.]
Man fragt mich oft, warum ich [eigen]tlich meine Bücher deutsch schriebe? Meine Antwort darauf ist immer die gleiche: ich liebe die Deutschen,—Jeder hat seine kleine Unvernunft. Was macht es mir, wenn die Deutschen mich nicht lesen? Um so mehr bemühe ich mich noch darum, ihnen gerecht zu sein.— Und, wer weiß? vielleicht lesen sie mich übermorgen.
2.
Das neue Deutschland stellt ein großes Quantum vererbter und angeschulter Tüchtigkeit dar: so daß es den aufgehäuften Schatz von Kraft eine Zeitlang selbst verschwenderisch ausgeben darf. Es ist nicht eine hohe Cultur, die mit ihm Herr geworden, noch weniger ein delikater Geschmack, eine vornehme “Schönheit” der Instinkte; aber männlichere Tugenden, als sonst ein Land Europa’s aufweisen kann. Viel guter Muth und Achtung vor sich selber, viel Sicherheit im Verkehr, in der Gegenseitigkeit der Pflichten, viel Arbeitsamkeit, viel Ausdauer—und eine angeerbte Mäßigung, welche eher des Stachels als des Hemmschuh’s bedarf. Ich füge hinzu, daß hier noch gehorcht wird, ohne daß das Gehorchen demüthigt ... Und Niemand verachtet seinen Gegner ...
3.
Nachdem ich auf diese Weise den Deutschen gerecht geworden—denn ich liebe sie, trotzalledem—habe ich keinen Grund mehr, ihnen meinen Einwand vorzuenthalten. Sie waren einst das “Volk der Denker”: denken sie heute überhaupt noch?— Sie haben keine Zeit mehr dafür ... Deutscher “Geist”—ich fürchte, das ist eine contradictio in adjecto.— Sie werden langweilig, sie sind es vielleicht, die große Politik verschlingt den Ernst für alle wirklich großen Dinge—, “Deutschland, Deutschland über alles”—ein kostspieliges, aber nicht ein philosophisches Princip.— “Giebt es deutsche Philosophen? Giebt es deutsche Dichter? Giebt es gute deutsche Bücher?”—so fragt man mich im Ausland. Ich erröthe, aber mit der Tapferkeit, die mir auch in verzweifelten Fällen zu eigen ist, antworte ich: “Ja! Bismarck!” ... Sollte ich eingestehn, welche Bücher man jetzt liest?— Dahn? Ebers? Ferdinand Meyer?— Ich habe Universitäts-Professoren diesen bescheidenen Bieder-Meyer auf Unkosten Gottfried Kellers loben hören. Vermaledeiter Instinkt der Mediokrität!
4.
Ich gestatte mir noch eine Erheiterung. Ich erzä[hle,] was ein kleines Buch mir erzählt hat, als es von seiner ersten Reise nach Deutschland zu mir zurückkam. Dasselbe heißt: Jenseits von Gut und Böse,—es war unter uns gesagt, das Vorspiel zu eben dem Werke, das man hier in den Händen hat. Das kleine Buch sagte zu mir: “ich weiß ganz gut, was mein Fehler ist, ich bin zu neu, zu reich, zu leidenschaftlich,—ich störe die Nachtruhe. Es giebt Worte in mir, die einem Gott noch das Herz zerreißen, ich bin ein Rendez-vous von Erfahrungen, die man nur 6000 Fuß über jedem menschlichen Dunstkreis macht.— Grund genug, daß die Deutschen mich verstanden ...” Aber, antwortete ich, mein armes Buch, wie konntest du auch deine Perlen—vor die Deutschen werfen? Es war eine Dummheit!— Und nun erzählte mir das Buch, was ihm begegnet sei.
5.
In der That, man hat sich seit 1871 nur zu gründlich in Deutschland über mich unterrichtet: der Fall bewies es. Ich wundere mich nicht, wenn man meinen Zarathustra nicht versteht, ich sehe keinen Vorwurf darin: ein Buch so tief, so fremd, daß sechs Sätze daraus verstanden, das heißt erlebt haben, in eine höhere Ordnung der Sterblichen erhebt. Aber jenes “Jenseits” nicht zu verstehn—das bewundere ich beinahe ... Ein Referent der Nationalzeitung verstand das Buch als Zeichen der Zeit, als echte rechte Junker-Philosophie, zu der es der Kreuzzeitung nur an Muth gebreche. Ein kleines Licht der Berliner Universität erklärte in der “Rundschau”, offenbar in Rücksicht auf seine eigne Erleuchtung, das Buch für psychiatrisch und citirte sogar Stellen dafür: Stellen, die das Unglück hatten, Etwas zu beweisen.— Ein Hamburger Blatt erkannte in mir den alten Hegelianer. Das litterarische Centralblatt gestand ein, “den Faden” für mich verloren zu haben (wann hat es ihn gehabt?—) und citirte, zur Begründung, ein paar Worte über den “Süden in der Musik”: als ob eine Musik, die nicht in Leipziger Ohren geht, damit aufhöre, Musik zu sein. Es bleibt dennoch wahr, was ich dort im Princip bekenne: il faut méditerraniser la musique.— Eine theologische Unschuld gab mir zu verstehn, mir liege gar nichts an der Logik, sondern einzig an “schönem Stile”: wie könne man ernst nehmen, was ich selbst so wenig ernst nähme?— Dies Alles mag noch hingehn: aber ich habe Fälle erlebt, wo das “Verständniß” das Maaß des Menschlichen überschritt und an’s Thierische streifte. Ein Schweizer Redakteur, vom “Bund”, wußte dem Studium des genannten Werks nichts Anderes zu entnehmen als daß ich mit demselben die Abschaffung aller anständigen Gefühle beantragte: man sieht er hatte sich bei den Worten “Jenseits von Gut und Böse” wirklich Etwas gedacht ... Aber einem solchen Falle war meine Humanität noch immer gewachsen. Ich dankte ihm dafür, ich gab ihm selbst zu verstehn, Niemand habe mich besser verstanden—er hat’s geglaubt ... Ein Jahr darauf behandelte dasselbe Blatt meinen Zarathustra als höhere Stilübung, mit geistreichen Winken über die Unvollkommenheit meines Stils —
— und ich hatte mein Vergnügen an dem Allen: warum sollte ich’s verschweigen? Man ist nicht umsonst Einsiedler. Das Gebirge ist ein stummer Nachbar, es vergehen Jahre, ohne daß Einen ein Wort er[re]ichte. Aber der Anblick des Lebenden erquickt: man läßt endlich alle Kindlein zu sich kommen, man [stre]ichelt jede Art Gethier noch, selbst wenn es Hörner hat. (Ich rede eine Kuh immer mit “mein Fräulein” an: das schmeichelt ihrem alten Herzen.) Nur der Einsiedler kennt die große Toleranz. Die Liebe zu den Thieren—zu allen Zeiten hat man die Einsiedler daran erkannt ...