Frühjahr-Herbst 1873 28 [1-6]
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Zu Schopenhauer. Lächerlich ihn sich an einer jetzigen Universität zu denken!
Seine eudämonologische Lehre ist wie die des Horaz für erfahrene Männer, seine andre pessimistische ist gar nichts für die jetzigen Menschen: diese werden höchstens ihre Unzufriedenheiten hineinstecken und diese wieder herausziehend glauben, Schopenhauer widerlegt zu haben. Die ganze “Kultur” nimmt sich so unsäglich kindisch aus, ebenso der Jubel nach dem Kriege. Er ist einfach und ehrlich: er sucht keine Phrasen. Welche Kraft haben alle seine Conceptionen, der Wille, die Verneinung, die Darstellung vom Genius der Gattung. Er hat in der Darstellung keine Unruhe, sondern die helle Tiefe des Sees bei Unbewegtheit oder leichtestem Wellenschlage. Er ist grob wie Luther. Er ist das strengste Ideal des Schriftstellers, das die Deutschen haben, keiner hat es so streng genommen. Wie würdevoll er ist, kann man an seinem Nachahmer Hartmann sehen. Unendliche Größe, wieder den Grund des Daseins erfaßt zu haben, kein gelehrtenhaftes Abziehn, kein Verweilen in der Scholastik. Das Studium der Anderen ist interessant, weil sie sofort auf die Stelle gerathen, wo das gelehrtenhafte Erkennen erlaubt ist, aber nichts weiter. Er zertrümmert die Verweltlichung, und ebenso die barbarisirende Kraft der Wissenschaften. Er erweckt das ungeheuerste Bedürfniß: wie Sokrates ein solcher Erwecker des Bedürfnisses war. Dieser aber rief die Wissenschaft: jener die Religion und die Kunst. Was die Religion war, war vergessen worden, ebenso die Stellung der Kunst zum Leben. Erst durch den Pessimismus sind beide wieder begriffen worden. Wie tief aber die neue Religion sein muß, ergiebt sich 1) daraus, daß das Unsterblichkeitsmotiv, mit der Todesfurcht, wegfällt 2) die ganze Scheidung von Seele und Körper 3) die Einsicht, nicht durch Correkturen palliativischer Art über das Elend des Daseins wegzukommen: viel radikaler 4) das Verhältniß zu einem Gott ist vorbei 5) das Mitleid (nicht die Liebe zum Ich, sondern die Einheit alles Lebenden und Leidenden). Gegenbild der Kultur, wenn die Religion nicht mehr möglich sein sollte. Tragische Resignation.
Schopenhauer steht zu allem in Widerspruch, was jetzt als “Kultur” gilt: Plato zu allem, was damals Kultur war. Schopenhauer ist vorausgeschleudert: wir ahnen jetzt bereits seine Mission. Er ist Vernichter kulturfeindlicher Kräfte, er öffnet wieder die tiefen Gründe des Daseins. Durch ihn wird die Heiterkeit der Kunst wieder möglich.