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Dass es Gelehrte giebt, welche sich ausschliesslich mit der Erforschung des griechischen und des römischen Alterthums beschäftigen, wird jeder billig, ja lobenswürdig und vor allem begreiflich finden, falls er überhaupt die Erforschung des Vergangenen billigt: dass dieselben Gelehrten aber zugleich die Erzieher der edlern Jugend, der reichen Stände sind, ist nicht ebenso leicht verständlich: hier liegt ein Problem. Warum sie gerade? Das versteht sich doch nicht so von selbst, wie das, wenn der Gelehrte der Heilkunst auch heilt und Arzt ist. Denn stünde es gleich, so müsste Beschäftigung mit dem griechischen und römischen Alterthum gleich sein mit “Wissenschaft der Erziehung.” Kurz: das Verhältniss von der Theorie und Praxis im Philologen ist nicht so schnell einzusehen. Wie kommt er zu dem Anspruch, der Lehrer im höheren Sinne zu sein und nicht nur alle wissenschaftlichen Menschen, sondern überhaupt alle Gebildeten zu erziehn?— Diese erziehende Kraft müsste also der Philologe doch dem Alterthume entnehmen; da fragt man denn erstaunt: wie kommen wir dazu, einer fernen Vergangenheit den Werth beizulegen, dass wir nur mit Hülfe ihrer Erkenntniss gebildet werden können?— Eigentlich fragt man nicht so oder selten so: vielmehr besteht die Herrschaft der Philologie über das Erziehungswesen fast unbezweifelt, und das Alterthum hat jene Geltung. In so fern ist die Lage des Philologen günstiger als die jedes andern Jüngers der Wissenschaft: er hat zwar noch nicht die grösste Masse von Menschen, die seiner bedürfen; der Arzt z. B. hat noch viel mehrere. Aber er hat ausgesuchte Menschen und zwar Jünglinge in der Zeit, wo alles knospt; solche, die Zeit und Geld auf eine höhere Entwicklung verwenden können. So weit sich jetzt die europäische Bildung erstreckt, hat man die Gymnasien auf lateinisch-griechischer Grundlage angenommen, als erstes und oberstes Mittel. Damit hat die Philologie die rechte und beste Gelegenheit gefunden, sich fortzupflanzen und Achtung vor sich zu erwecken: hierin steht keine andre Wissenschaft so günstig. Im Ganzen halten auch alle die, welche durch solche Anstalten hindurch gegangen sind, an der Vortrefflichkeit der Einrichtung fest; sie sind unbewusste Verschworene zu Gunsten der Philologie; erschallt einmal ein Wort dagegen, von solchen die nicht auf diesem Wege gegangen sind, so erfolgt die Ablehnung so einmüthig und so still, als ob klassische Bildung eine Art von Zauberei sei, beglückend und durch diese Beglückung sich jedem Einzelnen beweisend; man polemisirt gar nicht, “man hat’s ja erlebt.”
Nun giebt es viele Dinge, an welche der Mensch sich so gewöhnt hat, dass er sie für zweckmässig hält; denn die Gewohnheit mischt allen Dingen Süssigkeit bei und nach der Lust schätzen die Menschen meistens das Recht einer Sache. Die Lust am klassischen Alterthum, wie sie jetzt empfunden wird, soll nun einmal darauf hin geprüft und zerlegt werden, wie viel daran jene Lust der Gewohnheit, wie viel Lust der Ungewohnheit ist: ich meine jene innere thätige neue und junge Lust, wie sie eine fruchtbare Überzeugung von Tage zu Tage erweckt, die Lust an einem hohen Ziele, die auch die Mittel dazu will: wobei man Schritt für Schritt weiter kommt, aus einem Ungewohnten in’s andere Ungewohnte: wie ein Alpensteiger.
Auf welchem Grunde beruht die grosse Schätzung des Alterthums in der Gegenwart, dass man darauf die ganze moderne Bildung aufbaut? Wo ist der Ursprung dieser Lust? Dieser Bevorzugung des Alterthums?
Bei dieser Untersuchung glaube ich erkannt zu haben, dass auf demselben Grund, auf dem das Ansehen des Alterthums als wichtigen Erziehungsmittels ruht, auch die ganze Philologie, ich meine ihre ganze jetzige Existenz und Kraft ruht. Das Philologenthum als Lehrerthum ist der genaue Ausdruck einer herrschenden Ansicht über den Werth des Alterthums und über die beste Methode der Erziehung. Zwei Sätze sind in diesem Gedanken eingeschlossen; erstens: alle höhere Erziehung muss eine historische sein, zweitens: mit der griechischen und römischen Historie steht es anders als mit allen andern, nämlich klassisch. So wird der Kenner dieser Historie zum Lehrer. Hier untersuchen wir den ersten Satz nicht, ob eine höhere Erziehung historisch sein müsse, sondern den zweiten: in wiefern klassisch?
Darüber sind einige Vorurtheile sehr verbreitet.
Erstens das Vorurtheil, welches im synonymen Begriff “Humanitätsstudien” liegt: das Alterthum ist klassisch, weil es die Schule des Humanen ist.
Zweitens: “das Alterthum ist klassisch, weil es aufgeklärt ist.”