September 1876 18 [1-62]
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115. Es ist bekannt, dass Liebe und Verehrung nicht leicht in Bezug auf dieselbe Person mit einander empfunden werden können. Das Schwerste und Seltenste wäre aber dies, daß höchste Liebe und der niedrigste Grad der Achtung sich bei einander fänden; also Verachtung als Urtheil des Kopfes und Liebe als Trieb des Herzens. Und trotzdem, dieser Zustand ist möglich und durch die Geschichte bewiesen. Der, welcher sich selbst mit der reinsten Art von Liebe lieben könnte, wäre der, welcher sich zugleich selbst verachtete, und welcher zu sich spräche: verachte Niemanden, ausgenommen dich selbst, weil du dich allein kennen kannst. Diess ist vielleicht die Stellung des Stifters der christlichen Religion zur Welt. Selbstliebe aus Erbarmen mit sich und seiner völligen Verächtlichkeit ist Kern des Christenthums ohne alle Schaale und Mythologie. Das Gefühl dieser Verächtlichkeit entspringt aus Selbsterkenntniss und diese wieder aus Rachebedürfniß. Hat Jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt durch Sündhaftigkeit aller Art, so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu fühlen. Eindringende Selbstbetrachtung und zuletzt Selbstverachtung sind die natürlichen Folgen, bei manchen Menschen selbst Askese, d. h. Rache an sich in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. Auch darin, dass der Mensch sich mehr Mühe und Hast zumuthet, zeigt sich derselbe Hang zur Rache an sich. Dass bei alledem der Mensch sich noch liebt, erscheint dann wie ein Wunder, und gewöhnlich legt man eine solche geläuterte und unbegreifliche Liebe einem Gotte bei, aber der Mensch selbst ist es, der einer solchen Liebe fähig ist in einer Art von Selbstbegnadigung denn er kann nicht aufhören, sich zu lieben, da seine Liebe nie Sache des Kopfes sein kann. In diesem Zustande wird die Liebe Herr über das Gefühl der Rache, der Mensch vermag wieder zu handeln und weiter zu leben; er hält freilich dieses Handeln und alles irdische Streben nicht sehr hoch, es ist fast zwecklos, aber er kann nicht anders, als handeln; wie der Christ der ersten Zeit sich durch den Hinblick auf den Untergang der Welt tröstet und dann endlich seiner verächtlichen, zum Handeln treibenden Natur verlustig zu gehen hofft, so kann jetzt jeder Mensch wissen, dass es mit der Menschheit jedenfalls einmal vorbei sein wird und damit muss sich der Ausdruck der Ziellosigkeit auf alles menschliche Streben legen; dazu wird er immer mehr hinter die Grundirrthümer in allen Bestrebungen kommen und sie an’s Licht bringen; ihnen allen liegt unreines Denken zu Grunde. Er wird zum Beispiel einsehen, dass alle Aeltern ihr Kind ohne Verantwortung erzeugen und ohne Kenntniss des zu Erziehenden erziehen, sodass sie nothwendig Unrecht thun und sich an einer fremden Sphäre vergreifen. Es gehört diess eben zur Unseligkeit der Existenz, und so wird der Mensch zuletzt bei allem, was er thut, sich voller Ungenüge fühlen und das Höchste, was er erreichen kann, wird sein: Mitleid mit sich zu haben; die Liebe und das Mitleid mit sich selber sind für die höchsten Stufen der Erschwerung des Lebens aufgespart, als die stärksten Erleichterungsmittel.
Weib und Kind.