Sommer 1878 30 [101-192]
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Man höre den zweiten Akt der Götterdämmerung ohne Drama: es ist verworrene Musik, wild wie ein schlechter Traum und so entsetzlich deutlich, als ob sie vor Tauben noch deutlich werden wollte. Dies Reden, ohne etwas zu sagen: ist beängstigend. Das Drama ist die reine Erlösung.— Ist das ein Lob, daß diese Musik allein unerträglich ist (von einzelnen, absichtlich isolirten Stellen abgesehen) als Ganzes?— Genug, diese Musik ist ohne Drama eine fortwährende Verleugnung aller höchsten Stilgesetze der älteren Musik: wer sich völlig an sie gewöhnt, verliert das Gefühl für diese Gesetze. Hat aber das Drama durch diesen Zusatz gewonnen? Es ist eine symbolische Interpretation hinzugetreten, eine Art philologischen Commentars, welcher die immer freie Phantasie des Verstehens mit Bann belegt—tyrannisch! Musik ist die Sprache des Erklärers, der aber fortwährend redet und uns keine Zeit läßt; überdies in einer schweren Sprache, die wieder eine Erklärung fordert. Wer einzeln sich erst die Dichtung (Sprache!) eingelernt hat, dann sie mit dem Auge in Aktion verwandelt hat, dann die Musik-Symbolik herausgesucht und verstanden hat und ganz sich hineinlebt, ja in alles Dreies sich verliebt hat—der hat dann einen ungemeinen Genuß. Aber wie anspruchsvoll! Aber es ist unmöglich, außer für kurze Augenblicke—weil zu angreifend, diese zehnfache Gesammtaufmerksamkeit von Auge Ohr Verstand Gefühl, höchste Thätigkeit des Aufnehmens, ohne jede produktive Gegenwirkung!— Dies thun die Wenigsten: woher doch die Wirkung auf so viele? Weil man intermittirt mit der Aufmerksamkeit, ganze Strecken stumpf ist, weil man bald auf die Musik, bald auf das Drama, bald auf die Scene allein Acht giebt—also das Werk zerlegt.— Damit ist über die Gattung der Stab gebrochen: nicht das Drama, sondern ein Augenblick ist das Resultat oder eine willkürliche Auswahl. Der Schöpfer einer neuen Gattung hat Acht hier zu geben! Nicht die Künste immer nebeneinander—sondern die Mäßigung der Alten, welche der menschlichen Natur gemäß ist.