Ende 1880 7 [201-313]
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Wenn ich den Anblick eines fremden Nothstandes oder Glücksstandes nicht mehr ertrage und handle, um dem abzuhelfen, sei es daß ich mich entferne, sei es daß ich das fremde Loos abändere (wenn schon der Gedanke daran mich quält): so ist ein gleichartiger Vorgang da. Daß mir fremdes Glück weh thut, während einem Anderen sein Anblick wohl thut: dies wäre ein Unterschied (ebenso der Anblick fremder Unabhängigkeit). Wehethun: ein Ausdruck, daß wir unsere Entwicklung gehemmt fühlen. Wir fühlen uns einer Kraft geraubt: ebenso andere Menschen beim Anblick des fremden Unglücks. Das Mitgefühl macht uns leidend, der Neid ebenso: beide sind uns nachtheilig. Freude an fremdem Unglück und fremdem Glück ist uns vorteilhaft, eine Quelle stärkerer Entwicklung (N[apoleon] wurde heiter, als er seinen Hof durch ein neues Ceremoniell genirt fand) [Vgl. Madame de Rémusat, Mémoires de Madame de Rémusat: 1802-1808. Publiés par son petit-fils Paul de Rémusat sénateur de la Haute-Garonne. Vol. 1. Paris: Calmann Lévy, 1880:395.] Der Leidende Andere wird erbittert über unsere Freude an seinem Leide und verunglimpft einen solchen: er als die Quelle des Urtheils, des tadelnden und lobenden, er verlangt Gleichgefühl, aber er selber übt es nicht, sonst würde er den Sich-freuenden an seinem Leide nicht tadeln, sondern sich mit ihm freuen (wie die, welche mit über sich lachen) d. h. er gesteht durch seine Praxis zu, daß der Andere ein Recht hat, zu sein, wie er ist, so wie er ein Recht habe, sich über ihn zu ärgern. Es ist unangenehm für die Anderen, “aber an sich nicht verwerflich”! wie alles Bittere und Schmerzhafte in der Natur.
Der welcher sich im Glück fühlt und sieht, daß der Andere darüber leidet (als Neidischer) verlangt nicht, daß dies sich ändre; er genießt es, aber er genießt es auch, wenn der Andere sich mitfreut, d. h. sein Glück macht ihn bereitwillig, sich das Verhalten des Anderen zu einer Vermehrung seines Glücks auszulegen. Sein Unglück, im Verhalten des Anderen eine Erleichterung zu suchen: indem man es ihm mitzutragen giebt oder indem man sich durch Tadel über ihn erhebt. Der Haß gegen die Nicht-Mitleidigen ist wesentlich Rache: also die Forderung des Mitleidens ebenfalls, es ist der nothwendig hervorgerufene Gefühls-Gegensatz zu jenem Haß.