Anfang 1880 1 [1-130]
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In unseren Schulen wird die jüdische Geschichte als die heilige vorgetragen: Abraham ist uns mehr als irgend eine Person der griechischen oder deutschen Geschichte: und von dem, was wir bei Davids Psalmen empfinden, ist das, was das Leben Pindars oder Petrarca’s in uns erregt, so verschieden wie die Heimat von der Fremde. Dieser Zug zu Erzeugnissen einer asiatischen, sehr fernen und sehr absonderlichen Rasse ist vielleicht inmitten der Verworrenheit unserer modernen Cultur eine der wenigen sicheren Erscheinungen, welche noch über dem Gegensatz von Bildung und Unbildung erhaben stehen: die stärkste sittliche Nachwirkung des Christenthums, welches sich nicht an Völker sondern an Menschen wendete und deshalb gar kein Arg dabei hatte, den Menschen der indogermanischen Rasse das Religionsbuch eines semitischen Volkes in die Hand zu geben. Erwägt man aber welche Anstrengungen das nicht semitische Europa gemacht hat, um diese fremdartige kleine jüdische Welt sich recht nahe ans Herz zu legen, sich über nichts darin mehr zu wundern, sondern sich nur über sich selbst und seine Befremdung zu wundern—so hat vielleicht in nichts Europa sich so sehr selbst überwunden wie in dieser Aneignung der jüdischen Litteratur. Das jetzige europäische Gefühl für die Bibel ist der größte Sieg über die Beschränktheit der Rasse und über den Dünkel daß für Jeden eigentlich nur das werthvoll sei, was sein Großvater und dessen Großvater gesagt und gethan haben. Dieses Gefühl ist so mächtig, daß wer sich jetzt frei und erkennend zur Geschichte der Juden stellen will, erst viele Mühe nöthig hat, um aus der allzugroßen Nähe und Vertraulichkeit herauszukommen und das jüdische wieder als fremdartig zu empfinden. Denn Europa hat sich selber zu einem guten Theil in die Bibel hineinlegen und im Ganzen und Großen etwas Ähnliches thun müssen, wie die Puritaner Englands, welche ihre Sentenzen, ihre Gewohnheiten, ihre Zeitgenossen, ihre Kriege, ihre kleinen und großen Schicksale in dem jüdischen Bude aufgezeichnet (prophezeit) fanden.— Was aber sagt der Europäer, welcher nach dem Vorzug der altjüdischen Litteratur vor allen anderen alten Litteraturen gefragt wird: “Es ist mehr Moral darin .” Das heißt aber: es ist mehr von der Moral darin, welche jetzt in Europa anerkannt wird: und dies heißt wiederum nichts anderes als: Europa hat die jüdische Moralität angenommen und hält diese für eine bessere, höhere, der gegenwärtigen Gesittung und Erkenntniß angemessenere als die arabische, griechische, indische, chinesische.— Was ist der Charakter dieser Moralität? Sind die Europäer wirklich vermöge dieses moralischen Charakters die ersten und herrschenden Menschen des Erdballs? Aber wonach bemißt man den Rang der verschiedenen Moralitäten? Zudem wollen es die Nicht-Europäer wie die Chinesen gar nicht Wort haben, daß die Europäer sich durch Moralität vor ihnen auszeichneten. Es gehört vielleicht mit zum Wesen der jüdischen Moralität, daß sie sich für die erste und höchste hält: es ist vielleicht eine Einbildung. Ja man kann fragen: giebt es überhaupt eine Rangordnung der Moralität[en?] Giebt es einen Kanon, der über allen waltet, das Sittliche definirt ohne Rücksicht auf Volk, Zeit, Umstände, Erkenntnißgrad? Oder ist eine Ingredienz aller Moralen, der Grad von Anpassung an die Erkenntniß, vielleicht das, was eine Rangordnung der Moralen ermöglicht?