Herbst 1885 44 [1-9]
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Was ist denn das, dieser Kampf des Christen “wider die Natur”? Wir werden uns ja durch seine Worte und Auslegungen nicht täuschen lassen! Es ist Natur wider etwas, das Natur ist. Furcht bei Vielen, Ekel bei Manchen, eine gewisse Geistigkeit bei Anderen, die Liebe zu einem Ideal ohne Fleisch und Begierde, zu einem “Auszug der Natur” bei den Höchsten—diese Wollen es ihrem Ideale gleich thun. Es versteht sich, daß Demüthigung an Stelle des Selbstgefühls, ängstliche Vorsicht vor den Begierden, die Lostrennung von den gewöhnlichen Pflichten (wodurch wieder ein höheres Ranggefühl geschaffen wird) die Aufregung eines beständigen Kampfes um ungeheure Dinge, die Gewohnheit der Gefühls-Effusion—alles einen Typus zusammensetzt: in ihm überwiegt die Reizbarkeit eines verkümmernden Leibes, aber die Nervosität und ihre Inspiration wird anders interpretirt. Der Geschmack dieser Art Naturen geht einmal 1) auf das Spitzfindige 2) auf das Blumige 3) auf die extremen Gefühle.— Die natürlichen Hänge befriedigen sich doch, aber unter einer neuen Form der Interpretation z. B. als “Rechtfertigung vor Gott,” “Erlösungsgefühl in der Gnade” (—jedes unabweisbare Wohlgefühl wird so interpretirt!—) der Stolz, die Wollust usw.— Allgemeines Problem: was wird aus dem Menschen, der sich das Natürliche verlästert und praktisch verleugnet und verkümmert? Thatsächlich erweist sich der Christ als eine übertreibende Form der Selbstbeherrschung: um seine Begierden zu bändigen, scheint er nöthig zu haben, sie zu vernichten oder zu kreuzigen. —
Die epikureische Art des Christen und die stoische Art—zur ersteren gehört François de Sales, zur letzteren Pascal
Sieg Epicurs—aber gerade diese Art Mensch wird schlecht verstanden und muß schlecht verstanden werden. Die stoische Art (welche es sehr nöthig hat zu kämpfen und folglich den Werth des Kämpfenden über die Gebühr schätzt—) verleumdet immer den “Epicur”!