Herbst 1885 - Frühjahr 1886 1 [101-200]
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Unter denen, welche sich von der Religion losgelöst haben, finde ich Menschen von vielerei Art und Rang. Da sind die Unenthaltsamen, welche sich von ihren Sinnen haben überreden lassen (weil ihre Sinne den Zwang und Vorwurf des religiösen Ideals nicht mehr ertrugen)—und die sich der Vernunft u[nd] des Geschmacks als ihrer Fürsprecher zu bedienen pflegen, wie als ob sie das Unvernünftige, das Geschmackwidrige an der Religion nicht mehr zu ertragen wüßten:—dieser Art Mensch eignet der antireligiöse Haß, die Bosheit und das sardonische Lachen, ebenso aber in gut verheimlichten Augenblicken eine sehnsuchtsvolle Scham, eine innere Unterwürfigkeit unter die Werthsetzungen des verleugneten Ideals. Der Kirche durch Sinnlichkeit entfremdet, verehren sie, wenn sie wieder zu ihr zurückkehren, das Ideal der Entsinnlichung, als das religiöse “Ideal an sich”:—eine Quelle vieler und schwerer Irrthümer.
Da sind die geistigeren, gefühlsärmeren, trockneren, auch gewissenhafteren Menschen, welche von Grund aus an ein Ideal zu glauben überhaupt unfähig sind und die nur im feinen Nein sagen und kritischen Auflösen noch ihre größte Stärke und Selbstachtung zu finden wissen: sie sind losgelöst, weil nichts in ihnen ist, das fest binden konnte; sie lösen los, weil — — —
Phasen —
Verlust, Oede, einbegriffen in das Gefühl der Untreue u[nd] Undankbarkeit, Loslösung, alles überwogen durch eine unwiderrufliche bittere Gewißheit
das Gefühl der ehrfurchtsvollen Rücksicht und eines scheuen Ernstes (mit großer Milde gegen die h[omines] religiosi)
das Gefühl der überlegenen u[nd]gütigen Heiterkeit gegen alle Religionen gemischt mit einer leichten Geringschätzung gegen die Unsauberkeit des intellektuellen Gewissens, welche es immer noch Vielen erlaubt, religiös zu sein, oder einem kaum verhehlten Erstaunen, daß es möglich ist zu “glauben”