Frühjahr 1873 26 [1-24]
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Es ist jetzt durch die öffentliche Meinung fast verboten, von den schlimmen Folgen des Krieges, zumal eines siegreich beendeten Kriegs zu reden, weshalb die Schriftsteller, die außer jener Meinung keine Meinungen besitzen, um die Wette das Lob des Kriegs, überhaupt sein Verdienst um Kultur, Kunst und Sittlichkeit zu singen beflissen sind. Trotzdem sei es gesagt: von allen schlimmen Folgen, die der letzte mit Frankreich geführte Krieg im Gefolge hat, ist vielleicht die schlimmste eine schnell um sich greifende und jetzt fast allgemeine Täuschung, als ob die deutsche Kultur in jenem Kriege über eine fremde Kultur gesiegt habe und deshalb vor allem den Lorbeer verdiene, der einem so außerordentlichen Kriege gemäß sei. Einmal wäre immer, selbst angenommen daß jene Kulturen mit einander gekämpft hätten, der Maßstab für die siegende immer noch ein sehr relativer und unter Verhältnissen noch gar zu keinem Siegesjubel oder Selbstglorifikation berechtigend; denn es käme darauf an, was jene unterjochte Kultur werth gewesen wäre, vielleicht sehr wenig, in welchem Falle auch der Sieg, selbst bei pomphaftestem Waffenerfolge, für die siegende Kultur keine Aufforderung zum Triumph enthielte. Andrerseits ist in unsrem Falle davon gar nicht die Rede. Strenge Kriegszucht, wissenschaftliche Überlegenheit der Führer, Einheit und Gehorsam unter den Geführten, kurz wesentlich Elemente, die nichts mit der Kultur zu thun haben, haben gesiegt, und nur darüber kann man sich wundern, daß die Kultur so wenig hemmend in diese militärischen Erfordernisse dazwischengetreten ist: daß sie entweder so ohnmächtig war oder so zugehörig dienstfertig. Genug, daß nach dem Krieg die Sache anders erscheint und überall anders betrachtet wird. Die Kultur soll es sein, die gesiegt hat; alle Gewerbe, alle Wissenschaften feiern ihre Mitbetheiligung daran und selbst eine Versammlung von Philologen und Schulmännern läßt sich das populäre Thema nicht entgehen und feiert ihren Stand als den am Siege mit Betheiligten. Ich will gar nichts darüber sagen, in wie weit mit Recht. Nur scheint mir darin eine allgemeine Gefahr zu liegen, daß eine höchst zweideutige, unfertige, unnationale Kultur, eine wahre Verlegenheits-Cultur plötzlich den Triumphator-Mantel sich umlegt. Um Gottes Willen, seht euch um und nehmt euch in Acht. Noch ein solcher Sieg und das deutsche Reich besteht, aber das Deutsche selbst ist vernichtet! Ich habe schon jetzt kaum den Muth, irgend eine Eigenschaft als eine speziell deutsche zu reklamiren. Die deutsche Sitte, die deutsche Geselligkeit, die deutschen Verwaltungen und Vertretungen, alles hat einen ausländischen Beigeschmack und sieht aus wie eine Nachahmung ohne Talent, von der noch dazu vergessen ist, daß sie Nachahmung ist: überall Originalität aus Vergeßlichkeit. In dieser Noth halte ich mich an die deutsche Sprache, die wahrhaftig bis jetzt allein sich durchgerettet hat, durch all die Mischung von Nationalitäten und Wechsel der Zeiten und Sitten, und meine, daß ein metaphysischer Zauber, Einheiten aus Vielheiten, Einartiges aus Vielartigem zu gebären, in der Sprache liegen müsse. Eben deshalb müssen wir die strengsten Wächter über diese unificirende, unsre zukünftige Deutschheit verbürgende Sprache setzen. Unsere großen Autoren haben ein heiliges Amt, als Wächter dieser Sprache; und unsere deutsche Schule hat eine fruchtbare ernste Aufgabe, unter den Augen solcher Wächter zur deutschen Sprache zu erziehen. (Neue Eigenschaft der d[eutschen] Sprache: alles anzunehmen und nachzuahmen, europäisches Mosaik.)
Nun hat der Krieg die unselige Wirkung gehabt, daß auch die deutschen Schriftsteller sich glorificirt fanden und jetzt ein Zutrauen zu sich bekamen, als hätte schon die strengste Nachwelt ihnen die Unsterblichkeit zuerkannt. Kecklich wagte eine ganze Reihe von neuen Klassikern sich ans Licht: die Zeitschriften und europäischen Zeitungen trugen ihnen das Krönungsdiadem voran und das Ausland geräth bei der immer erneuten Versicherung, daß wir eine große Kultur und große Classiker besäßen, in staunende Verwirrung. Denken wir uns einen gebildeten Engländer, der mit unsren großen Deutschen sich vertraut gemacht hat und nun über den Kanal her immer von neuem es hören muß, daß wieder deutsche Classiker und Musterschriftsteller existiren, als die wahren Helfer und Ursachen so gewaltiger Kriege und Siege, und dadurch höher gestellt als jene älteren, denen am wenigsten kriegerische Kränze dargebracht worden sind. Unser Engländer liest z. B. davon, daß man sich in verbreiteten Zeitschriften darüber unterhält, ob David Strauß der größte Stilist der Gegenwart sei oder noch einer Anzahl von Seinesgleichen beisitze: und jetzt steigt sein Verlangen aufs Höchste, sich mit dieser modernen Klassicität bekannt zu machen und verlangt das Werk, das in einem Vierteljahr viermal, in starken Auflagen, zur Welt kam, “Der alte und der neue Glaube.”
Damit haben wir alles gesagt, was als Einleitung für den von nun an selbst redenden Engländer gesagt werden mußte: dieser liest, liest wieder, staunt, fragt, horcht, untersucht—und endlich ergreift er, in Verzweiflung, die Feder, um das ihn so Beängstigende in einem Briefe loszuwerden—er wendet sich eben direkt an David Strauß.
Erster Brief.
Ein Ausländer hat Einiges voraus, wenn er sich mit dem berühmten David Strauß in ein Gespräch über das einläßt, was Deutsch ist, zumal er — — —