Herbst 1885 43 [1-3]
43 [1]
Entwurf
Das erste Problem ist: wie tief der “Wille zur Wahrheit” in die Dinge hinein geht? Man ermesse den ganzen Werth der Unwissenheit im Verband der Mittel zur Erhaltung des Lebendigen, insgleichen den Werth der Vereinfachungen überhaupt und den Werth der regulativen Fiktionen, z. B. der logischen, man erwäge vor Allem den Werth der Ausdeutungen, und in wiefern nicht “es ist,” sondern “es bedeutet” — — —
so kommt man zu dieser Lösung: der “Wille zur Wahrheit” entwickelt sich im Dienste des “Willens zur Macht”: genau gesehen ist seine eigentliche Aufgabe, einer bestimmten Art von Unwahrheit zum Siege und zur Dauer zu verhelfen, ein zusammenhängendes Ganze von Fälschungen als Basis für die Erhaltung einer bestimmten Art des Lebendigen zu nehmen.
Problem: wie tief der Wille zur Güte hinab in das Wesen der Dinge geht. Man sieht überall, bei Pflanze und Thier, das Gegentheil davon: Indifferenz oder die Härte oder Grausamkeit. Die “Gerechtigkeit” “die Strafe.” Die Entwicklung der Grausamkeit.
Lösung. Das Mitgefühl ist nur bei socialen Bildungen (zu denen der menschliche Leib gehört, dessen lebendige Einzelwesen mit einander fühlen) da, als Consequenz davon, daß ein größeres Ganze sich erhalten will gegen ein anderes Ganze, und wieder weil im Gesammt-Haushalt der Welt, wo es keine Möglichkeit des Zugrundegehens und Verlierens giebt, Güte ein überflüssiges Princip [sein] würde.
Problem: wie, tief die Vernunft dem Grunde der Dinge zukommt. Nach einer Kritik von Zweck und Mittel (—kein faktisches Verhältniß, sondern immer nur ein hineingedeutetes), der Charakter der Verschwendung, der Verrücktheit ist [im] Gesammthaushalt normal. Die “Intelligenz” erscheint als eine besondere Form der Unvernunft, beinahe als ihre boshafteste Caricatur.
Problem: wie weit der “Wille zum Schönen” reicht. Rücksichtslose Entwicklung der Formen: die schönsten sind nur die stärksten: als die siegreichen halten sie sich fest, und werden ihres Typus froh, Fortpflanzung. (Platos Glaube, daß selbst Philosophie eine Art sublimer Geschlechts- und Zeugetrieb sei.)
Die Dinge also, welche wir bisher am Höchsten geschätzt haben: als das “Wahre,” “Gute,” “Vernünftige,” “Schöne,” erweisen sich als Einzelfälle der umgekehrten Mächte—ich zeige mit dem Finger auf diese ungeheure perspektivische Fälschung, vermöge deren die Species Mensch sich selber durchsetzt. Es ist ihre Lebensbedingung, daß sie an sich selber Lust deshalb hat (der Mensch hat Freude an den Mitteln seiner Erhaltung: und zu ihnen gehört es, daß der Mensch sich nicht will täuschen lassen, daß Menschen sich gegenseitig helfen, sich zu verstehen bereit [sind]; daß im Ganzen die gelungenen Typen auf Unkosten der mißrathenen zu leben wissen). In dem Allen drückt sich der Wille zur Macht aus, mit seiner Unbedenklichkeit zu den Mitteln der Täuschung zu greifen: es ist ein boshaftes Vergnügen denkbar, daß ein Gott empfindet beim Anblick des sich selber bewundernden Menschen.
Also: der Wille zur Macht.
Consequenz: wenn uns diese Vorstellung feindselig ist, warum geben wir ihr nach? Heran mit den schönen Trugbildern! Seien wir Betrüger und Verschönerer der Menschheit! Thatsache, was eigentlich ein Philosoph ist.