Herbst 1885 43 [1-3]
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Die Deutschen, an deren germanischen Vorfahren kein Tacitus den Geist, oder auch nur eine Lust am Geistigen, etwa am argute loqui, zu rühmen wußte, haben noch dazu alles gethan, durch viele Jahrhunderte hindurch, sich dumm zu machen; und ein boshafter Gott, welcher deutschfeindlich—vielleicht in Furcht vor ihrem vorbestimmten Atheismus und Götterdämmerung?—über ihnen waltete, gab ihnen lauter Neigungen ein, mit welchen ein Volk die Thüren auch für das Kommen des Geistes zuschließt: z. B. indem er sie hieß, in überheißen Betten schwitzen, in dumpfen engen Stuben hocken, lauter Schwerverdauliches wie Klöse und schwere fettige Brühen zu ihren Leibspeisen machen, vor Allem trinken bis sie sanken: so daß schlafen gehen und angetrunken sein lange Zeiten hindurch zu den Nachbar-Vorstellungen eines deutschen Kopfes gehörte. Man möchte fast glauben, daß, wenn es endlich doch so etwas geben sollte, wie “deutschen Geist,” er erst durch Entdeutschung, ich meine durch Mischung mit ausländischem Blut ermöglicht worden ist. Wer rechnet nach, was den Slaven oder den Kelten oder den Juden für die Vergeistigung Deutschlands alles verdankt wird! Am wichtigsten aber mag die Blut-Mischung selber gewesen sein, indem sie im gleichen M[enschen] verschiedene Instinkte und nicht immer nur “zwei sondern zwanzig Seelen” in Eine Brust anpflanzte, jene ungeheure Blut-Verderbniß der Rasse, welche in Europa nicht ihres Gleichen hat und endlich aus dem Deutschen ein alles verstehendes, alles nachfühlendes und sich aneignendes Volk der Mitte, der Vermittlung gemacht hat—eine Ferment-Rasse, bei der nunmehr “kein Ding unmöglich ist.” Man rechne sich die Geschichte der deutschen Seele nach, man begreife [,wie] diese in sich unausgeglichenen vielspältigen, vielfachen M[enschen] äußerlich schwach, servil, bequem, ungeschickt, innerlich ein Tummelplatz geistiger Versuchungen und Kämpfe wurden: wie endlich wenigstens eine Art aufrührerischer Bauern- und Prediger-Geist hervorsprang (Luther ist das schönste Beispiel davon, er, der den Bauernkrieg des Geistes gegen die “höheren Menschen” der Renaissance anführte—) wie dieser Bauern- und Prediger-Geist später zum angriffsbereiten, schneide- und beißlustigen Bürger- und Kritikergeiste sich wandelt—Lessing ist davon wieder das schönste Beispiel, er, der einen “Bürger-Krieg,” den Krieg des deutschen bourgeois gegen den aristokratischen Geist der französischen Cultur anführte: Lessing gegen Corneille, Lessing der Fürsprecher Diderot’s): bis endlich unser letzter Doppel-Typus des fortentwickelten Geistes, Goethe und Hegel, den Alles umfassenden Boa-Constrictor “Geist an sich” und seine Ferment-Natur an den Tag brachte, die kosmo- und theopolitische Allzugänglichkeit des Deutschen, die Überlegenheit seiner Abstraktionen, die kluge Geschmeidigkeit seines aneignenden Historisirens: seine letzte und vornehmste Artung, die eine mandarinenhafte Überlegenheit und “Jenseitigkeit” — — —
— ganz Europa sank vor Bewunderung dabei auf die Knie —
— freilich ebenso sehr auch den vollkommenen Mangel an Grenzen, an Maaß im griechischen Sinn, an “Stil” in jedem Sinn, an eigentlichem Inhalt — ich meine an neuen Werth-setzungen, Werth-Schöpfungen.
Immerhin: im Verhältniß zu dieser letzten großen europäischen Merkwürdigkeit, zum “deutschen Geiste,” ist das augenblicklich so wichtig genommene “deutsche Reich” kein Gegenstand ernsthaften Interesses, zum Mindesten in dem Auge eines Philosophen. Wozu in aller Welt ein neues Reich, wenn es nicht auf einem neuen Gedanken, zum mindesten doch einer neuen Dummheit ruht? Aber noch einmal diese alte Dummheit—gleiche politische Rechte, Volks-Vertretung, Parlamentarismus, Zeitungen, als Grundlage eines Staates—noch ein Mal die blödsinnig machende Europäer-Krankheit des beständigen Politisirens auf ein großes Volk mehr ausgedehnt: was hätte ein Ph[ilosoph] da Neues zu lernen—oder gar zu verachten! —