Sommer 1887 8 [1-8]
8 [2]
Zur Psychologie der Metaphysik
Diese Welt ist scheinbar—folglich giebt es eine wahre Welt.
Diese Welt ist bedingt—folglich giebt es eine unbedingte Welt.
Diese Welt ist widerspruchsvoll—folglich giebt es eine widerspruchslose Welt.
Diese Welt ist werdend—folglich giebt es eine seiende Welt.
Lauter falsche Schlüsse (blindes Vertrauen in die Vernunft: wenn A ist, so muß auch sein Gegensatz-Begriff B sein)
Zu diesen Schlüssen inspirirt das Leiden: im Grunde sind es Wünsche, es möchte eine solche Welt geben; ebenfalls drückt sich der Haß gegen eine Welt, die leiden macht, darin aus, daß eine andere imaginirt wird, eine werthvolle: das Ressentiment der Metaphysiker gegen das wirkliche ist hier schöpferisch.
Zweite Reihe von Fragen: wozu Leiden? ... und hier ergiebt sich ein Schluß auf das Verhältniß der wahren Welt zu unsrer scheinbaren, wandelbaren, leidenden und widerspruchsvollen.
1) Leiden als Folge des Irrthums: wie ist Irrthum möglich?
2) Leiden als Folge von Schuld: wie ist Schuld möglich?
(—lauter Erfahrungen aus der Natursphäre oder der Gesellschaft universalisirt und ins “An-sich” projicirt)
Wenn aber die bedingte Welt ursächlich von der unbedingten bedingt ist, so muß die Freiheit zum Irrthum und zur Schuld mit von ihr bedingt sein: und wieder fragt man wozu? ... Die Welt des Scheins, des Werdens, des Widerspruchs, des Leidens ist also gewollt: wozu?
Der Fehler dieser Schlüsse: zwei gegensätzliche Begriffe sind gebildet,—weil dem einen von ihnen eine Realität entspricht, “muß” auch dem anderen eine Realität entsprechen. “Woher sollte man sonst dessen Gegenbegriff haben?”— Vernunft somit als eine Offenbarungs-Quelle über Ansich-Seiendes.
Aber die Herkunft jener Gegensätze braucht nicht nothwendig auf eine übernatürliche Quelle der Vernunft zurückzugehen: es genügt die wahre Genesis der Begriffe dagegen zu stellen:—diese stammt aus der praktischen Sphäre, aus der Nützlichkeitssphäre und hat eben daher ihren starken Glauben (man geht daran zu Grunde, wenn man nicht gemäß dieser Vernunft schließt: aber damit ist das nicht “bewiesen,” was sie behauptet)
Die Präokkupation durch das Leiden bei den Metaphysikern: ist ganz naiv. “Ewige Seligkeit”: psychologischer Unsinn. Tapfere und schöpferische Menschen fassen Lust und Leid nie als letzte Werthfragen,—es sind Begleit-Zustände, man muß Beides wollen, wenn man etwas erreichen will.— Darin drückt sich etwas Müdes und Krankes an den Metaphysikern und Religiösen aus, daß sie Lust- und Leidprobleme im Vordergrunde sehen. Auch die Moral hat nur deshalb für sie solche Wichtigkeit, weil sie als wesentliche Bedingung in Hinsicht auf Abschaffung des Leidens gilt.
Insgleichen die Präokkupation durch Schein und Irrthum: Ursache von Leiden, Aberglaube, daß das Glück mit der Wahrheit verbunden sei (Verwechslung: das Glück in der “Gewißheit,” im “Glauben”)