Frühjahr-Sommer 1874 34 [1-48]
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Jeder Philosoph ist einmal für sich, sodann für Andere Philosoph: dieser Doppelheit der Beziehungen kann er gar nicht ausweichen. Selbst wenn er sich streng von seinen Mitmenschen absonderte, so müsste doch eben diese Absonderung ein Gesetz seiner Philosophie sein: sie würde zur öffentlichen Lehre, zum sichtbaren Beispiel. Das eigenthümlichste Product eines Philosophen ist sein Leben, es ist sein Kunstwerk und als solches eben sowohl dem, welcher es schuf, wie den andern Menschen zugekehrt. Der Staat, die Gesellschaft, die Religion, ja Ackerbau und Gartenkunst—alle können fragen: was ist mir dieser Philosoph? Was kann er uns geben, was nützen, was schaden?— So fragt nun auch, in Betreff Schopenhauers, die deutsche Cultur.
Ich nenne ihn, auch in dieser wichtigen Rücksicht, einen Erzieher der Deutschen. Wie sehr sie aber gerade eines solchen bedürfen, ist mir nach dem französischen Kriege von Stunde zu Stunde deutlicher geworden: obwohl ein Scharfsichtigerer diese allerneuesten Belehrungen gar nicht erst nöthig gehabt hätte. “Wir müssen von den Franzosen lernen”—aber was? “Eleganz!” Das scheint die Belehrung zu sein, welche die Deutschen aus jenem Kriege allesammt mit nach Hause genommen haben. Vor dem wurde dieser Ruf noch ziemlich selten gehört: obwohl es genug Litteraten gab, die eifersüchtig nach Paris hinüberblinzelten. Die Eleganz Renan’s zum Beispiel [Vgl. Ernest Renan, Histoire des origines du Christianisme. Livre premier. Vie de Jésus. Paris: Michel Lévy fréres, 1863; 1867.] liess zuerst die Feder Straussens [Vgl. David Friedrich Strauss, Das Leben Jesu für das deutsche Volk bearbeitet. 2. Aufl. Leipzig: Brockhaus, 1864.] und neuerdings die des Theologen Hausrath [Vgl. Adolf Hausrath, Die Zeit Jesu. Zweite Auflage. Heidelberg: Bassermann, 1873.] nicht schlafen [...]