Oktober-December 1876 19 [1-120]
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59. Von zwei übeln Empfindungen kann allmählich die Philosophie erlösen: erstens von der Furcht auf dem Sterbebette, weil da nichts zu fürchten ist, zweitens von der Reue und Gewissensqual nach der That, weil jede That ganz unvermeidlich war. Hinsichtlich alles Vergangenen ist ein kalter Fatalismus die philosophische Gesinnung.
Der Unmuth über eine That wird aber vielleicht nicht geringer, wenn ich einsehe, daß sie Nothwendigkeit war: es ist ein Schmerz, der sich nicht durch Vorwurf Rache usw. erleichtern kann. Denn seine ganze Natur sein esse der That zu bezichtigen ist nur eine neue Stufe derselben Unvernunft, welche uns für jede einzelne Handlung verantwortlich machen will. Weil der Unmuth da ist, so muß Verantwortlichkeit da sein, also irgendwo eine Freiheit: so kam Schopenhauer auf den Begriff der intelligiblen Freiheit. Aber die Thatsache des Unmuths beweist nicht die rationelle Vernünftigkeit dieses Unmuthes: und nur, wenn es so stünde, würde man in der Schopenhauerschen Weise fortschließen können.— Der Unmuth ist übrigens zwar jetzt da, aber kann vielleicht abgewöhnt werden.
Wenn aber die schlechte ungeschickte Handlung keinen Unmuth nach sich zieht, so würde diese kalte Gesinnung, welche man sich in Hinsicht der Vergangenheit angewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln der Menschen durch die Anticipation der zu erwerbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese weg, so hielte ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin. Er würde in Hinsicht auf das Kommende ebenso kalt wie in Hinsicht auf das Vergangene. Jetzt träte die kalte Überlegung ein, ob Leben oder Nichtleben vorzuziehen sei: und der Selbstmord aus Besonnenheit wäre die Folge. In Erkenntniß oder Witterung dieses Sachverhaltes sträubt sich jeder Mensch, und auch jede Ethik gegen die Aufhebung der Freiheit: letztere mit Unrecht, da die Philosophie durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit sondern nur auf sie zu achten hat.— Dass das Leben als Ganzes keine Folge der Empfindung (Lust oder Unlust) haben soll, wird aus demselben Grunde abgewehrt (daher die Bedeutung, die dem Sterbebette zugeschrieben wird).