Oktober-December 1876 19 [1-120]
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Aristoteles meint, durch die Tragödie werde das Übermaß am Mitleide und Furchtsamkeit entladen, der Zuhörer kehre kälter nach Hause zurück. Plato meint dagegen, er sei rührseliger und ängstlicher als je.— Plato’s Frage über die moralische Bedeutung der Kunst ist noch nicht wieder aufgeworfen. Der Künstler braucht die Entfesselung der Leidenschaft. Wir lassen uns die Leidenschaften, welche der athenische Komiker bei seinen Zuhörern entladen will, kaum mehr gefallen: Begierde Schmähsucht Unanständigkeiten usw. Thatsächlich ist Athen weichlich geworden. Als Ersatz der Religion kann die Kunst nicht gelten: denn für den, welcher vollendet hat, ist sie überflüssig, für den welcher im Kampf ist, kein Ersatz der Religion, sondern höchstens eine Beihülfe der Religion.— Vielleicht ist ihre Stellung so, wie sie Mainländer nimmt, eine Beihülfe der Erkenntniß, sie läßt den Frieden und den großen Erfolg der Erkenntniß von ferne wie blaue Berge sehen. Ersatz der Religion ist nicht die Kunst, sondern die Erkenntniß. [Vgl. Philipp Mainländer: Die Philosophie der Erlösung. Berlin: Grieben, 1876.]