Sommer-Herbst 1884 26 [401-469]
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Kant’s Ruhm ist heute ins Unbillige hinaufgetrieben, weil die vielen Kritiker eines kritischen Zeitalters ihre Cardinal-Tugend in ihm wiederfanden: sie loben sich, wenn sie vor Kant huldigen. Aber alle bloß kritischen Naturen sind zweiten Ranges, gehalten gegen die großen Synthetiker: an sie streift der unermeßliche Ehrgeiz Hegel’s, der deshalb immer noch im Auslande als der größte deutsche Geist empfunden wird.
Schopenhauers Ruhm hängt ebenfalls von der Zeit ab: eine verdrossene hoffnungslose entblätterte Zeit hat seine Denkweise hochgehoben, die 50er Jahre Deutschlands. In Frankreich “blüht” er jetzt. Sein Ruhm ist übertrieben. In ihm ist ein Zug Mystik und Unklarheit mehr als bei Kant: damit verführt er unsere d[eutschen] Jünglinge.— Anderseits bringt er für unsere schlecht erzogene Jugend mancherlei Wissenschaft und interessirt; auch citirt er gute Bücher und leidet, ebenso wenig als Friedrich der Große und Bismarck, an jener niaiserie allemande, [Vgl. Prosper Mérimée, Lettres à une inconnue. Précédées d'une étude sur Mérimée par H. Taine. Vol. 1. Paris: Michel Lévy Frères, 1874:328.] die dem Ausländer an unseren besten Köpfen auffällt (selbst an Goethe) Er ist einer der bestgebildeten Deutschen, das will sagen ein Europäer. Ein guter Deutscher—man verzeihe mir’s, wenn ich es zehnmal wiederhole—ist kein Deutscher mehr. —
Fichte, Schelling, Hegel Feuerbach Strauß—das stinkt Alles nach Theologen und Kirchenvätern. Davon ist Schopenhauer ziemlich frei, man athmet bessere Luft, man riecht sogar Plato. Kant schnörkelhaft-schwerfällig: man merkt, daß die Griechen noch gar nicht entdeckt waren. Homer und Plato klangen nicht in diese Ohren.