Anfang 1886 - Frühjahr 1886 4 [1-9]
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— “Die Krankheit macht den Menschen besser”: diese berühmte Behauptung, der man durch alle Jahrhunderte begegnet, und zwar im Munde der Weisen ebenso als im Mund und Maule des Volks, giebt zu denken. Man möchte sich, auf ihre Gültigkeit hin, einmal erlauben zu fragen: giebt es vielleicht ein ursächliches Band zwischen Moral und Krankheit überhaupt? Die “Verbesserung des Menschen,” im Großen betrachtet, zum Beispiel die unleugbare Milderung Vermenschlichung Vergutmüthigung des Europäers innerhalb des letzten Jahrtausends—ist sie vielleicht die Folge eines langen heimlich-unheimlichen Leidens und Mißrathens, Entbehrens, Verkümmerns? Hat “die Krankheit” den Europäer “besser gemacht”? Oder anders gefragt: ist unsere Moralität — unsere moderne zärtliche Moralität in Europa, mit der man die Moralität des Chinesen vergleichen möge—der Ausdruck eines physiologischen Rückgangs? ... Man möchte nämlich nicht ableugnen können, daß jede Stelle der Geschichte, wo “der Mensch” sich in besonderer Pracht und Mächtigkeit des Typus gezeigt hat, sofort einen plötzlichen, gefährlichen, eruptiven Charakter annimmt, bei dem die Menschlichkeit schlimm fährt; und vielleicht hat es in jenen Fällen, wo es anders scheinen will, eben nur an Muth oder Feinheit gefehlt, die Psychologie in die Tiefe zu treiben und den allgemeinen Satz auch da noch herauszuziehn: “je gesünder, je stärker, je reicher, fruchtbarer, unternehmender ein Mensch sich fühlt, um so ‘unmoralischer’ wird [er] auch.” Ein peinlicher Gedanke! dem man durchaus nicht nachhängen soll! Gesetzt aber, man läuft mit ihm ein kleines, kurzes Augenblickchen vorwärts, wie verwundert blickt man da in die Zukunft! Was würde sich dann auf Erden theurer bezahlt machen als gerade das, was wir mit allen Kräften fordern—die Vermenschlichung, die “Verbesserung,” die wachsende “Civilisirung” des Menschen? Nichts wäre kostspieliger als Tugend: denn am Ende hätte man mit ihr die Erde als Hospital: und “Jeder Jedermanns Krankenpfleger” wäre der Weisheit letzter Schluß. Freilich: man hätte dann auch jenen vielbegehrten “Frieden auf Erden”! Aber auch so wenig “Wohlgefallen an einander”! So wenig Schönheit, Übermuth, Wagniß, Gefahr! So wenig “Werke,” um derentwillen es sich noch lohnte, auf Erden zu leben! Ach! und ganz und gar keine “Thaten” mehr! Alle großen Werke und Thaten, welche stehn geblieben sind und von den Wellen der Zeit nicht fortgespült wurden—waren sie nicht alle im tiefsten Verstande große Unmoralitäten? ...