Anfang 1886 - Frühjahr 1886 4 [1-9]
4 [8]
Daß die bloße Stärke eines Glaubens ganz und gar noch nichts hinsichtlich seiner Wahrheit verbürgt, ja sogar im Stande ist, aus der vernünftigsten Sache langsam, langsam eine dicke Thorheit herauszupräpariren: dies ist unsre eigentliche Europäer-Einsicht,—in ihr, wenn irgend worin, sind wir erfahren, gebrannt, gewitzigt, weise geworden, durch vielen Schaden, wie es scheint ... “Der Glaube macht selig”: gut! Bisweilen wenigstens! Aber der Glaube macht unter allen Umständen dumm, selbst in dem seltneren Falle, daß er es nicht ist, daß er von vornherein ein kluger Glaube ist. Jeder lange Glaube wird endlich dumm, das bedeutet, mit der Deutlichkeit unsrer modernen Psychologen ausgedrückt, seine Gründe versinken “ins Unbewußte,” sie verschwinden darin,—fürderhin ruht er nicht mehr auf Gründen, sondern auf Affekten (das heißt er läßt im Falle, daß er Hülfe nöthig hat, die Affekte für sich kämpfen und nicht mehr die Gründe). Angenommen, man könnte herausbekommen, welches der bestgeglaubte, längste, unbestrittenste, ehrlichste Glaube ist, den es unter Menschen giebt, man dürfte mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit muthmaaßen, daß er zugleich auch der tiefste, dümmste, “unbewußteste,” vor Gründen am besten vertheidigte, von Gründen am längsten verlassene Glaube sei.—
Zugegeben; aber welches ist dieser Glaube?— Oh ihr Neugierigen! Aber nachdem ich mich einmal auf’s Räthsel-Aufgeben eingelassen habe, will ich’s menschlich treiben und mit der Antwort und Lösung schnell herausrücken,—man wird sie mir nicht so leicht vorwegnehmen.
Der Mensch ist vor Allem ein urtheilendes Thier; im Urtheile aber liegt unser ältester und beständigster Glaube versteckt, in allem Urtheilen giebt es ein zu Grunde liegendes Fürwahr-halten und Behaupten, eine Gewißheit, daß Etwas so und nicht anders ist, daß hierin wirklich der Mensch “erkannt” hat: was ist das, was in jedem Urtheil unbewußt als wahr geglaubt wird?— Daß wir ein Recht haben, zwischen Subjekt und Prädikat, zwischen Ursache und Wirkung zu unterscheiden—das ist unser stärkster Glaube; ja im Grunde ist selbst schon der Glaube an Ursache und Wirkung, an conditio und conditionatum nur ein Einzelfall des ersten und allgemeinen Glaubens, unsres Urglaubens an Subjekt und Prädikat (nämlich als die Behauptung, daß jede Wirkung eine Thätigkeit sei und daß jedes Bedingte einen Bedingenden, jede Thätigkeit einen Thäter, kurz ein Subjekt voraussetze) Sollte dieser Glaube an den Subjekts- und Prädikats-Begriff nicht [eine große Dummheit sein?]