Winter 1869-70 - Frühjahr 1870 2 [1-31]
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Die angebliche Scheidung in schöpferische und kritische Naturen ist eine Täuschung, aber eine sehr palpable und unter Geistern der mittleren Zone recht beliebte.
Dies alles soll nur verdeutlichen, wie wichtig und bestimmend für unser als der Spätergeborenen Urtheil jede Kunde ist, die uns über das persönliche Verhalten großer Künstler und Denker zu einander ins Klare setzt. Bei ihnen wirkt vor allem die ganz untrügliche Weisheit ihres Instinktes, mit der sie das Echte und Gute auch unter unscheinbarer Hülle, auch bei noch so großer zeitlicher und räumlicher Entfernung als etwas ihnen Verwandtes entdecken. Mit der Wünschelruthe dieses Instinktes deuten sie auf dunkle Stätten der Vergangenheit, wo Schätze zu haben sind, mit derselben Wünschelruthe verwandeln sie, was in der Gegenwart als Gold gilt, in schwarze Kohle. Die kleine Gemeinde dieser in allen Jahrhunderten zerstreuten und doch sich treulich die Hände reichenden Genien führt ein unerbittlich hartes oligarchisches Regiment, gegen das es keinen Schutz giebt als in der zeitweiligen Täuschung des Wahnes. Ohne diesen Wahn aber würden es jene schon erwähnten Geister der Mittel- und Unterwelt nicht im Dasein aushalten können: für sie ist er ein betäubender zauberischer Trank, den sie schlürfen, um zu leben: wenn seine Macht plötzlich sich kraftlos erwiese, so würden sie sofort von der Leiter herabstürzen, an deren Stufen sie mühsam klimmen. In diesem traumhaften Zustand sehen sie die obersten Sprossen der Leiter und die dort stehenden Genien: aber sie erscheinen dem Wahnverblendeten weniger ferne und voll von schwarzen Flecken, mit dem Ausdrucke niederer Leidenschaften in den Zügen und unter einander beständig uneins und scheelsichtig.
Dies sind die fundamentalen Sätze einer litterar-historischen Forschung: was uns aus dem Alterthum an Urtheilen überliefert ist, ist entweder congenial oder nicht, im letzteren Falle jedenfalls verzerrend, abblassend, entweder panegyrisch, mikrologisch, feindselig usw.
Hier frage ich nun sofort: ist es die Ausgeburt jenes Wahnes oder das unendlich schätzbare Zeugniß eines großen Genius über den anderen, was sich in jener symbolischen Erzählung vom wettkämpfenden Homer verbirgt? Homer, der in — — —