Herbst 1873 - Winter 1873-74 31 [1-11]
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Pericles spricht von den Festen Athens, den schönen und kostbaren Einrichtungen des Hauses, deren täglicher Anblick das düstere Wesen verscheucht. [Vgl. Thukydides, Geschichte des Peloponnesischen Kriegs. Übersetzt von Dr. Adolf Wahrmund. II, 38. Stuttgart: Krais & Hoffmann, 1861:125.] Wir Deutsche leiden sehr an diesem düstern Wesen; Schiller hoffte durch das Einströmen von Schönheit und Grösse, durch die aesthetische Erhebung eine Nachwirkung in Betreff der moralischen Erhebung. Wagner hofft umgekehrt dass die moralischen Kräfte der Deutschen sich endlich auch einmal dem Bereiche der Kunst zuwenden, um hier Ernst und Würde zu verlangen. Er nimmt die Kunst so streng und ernst wie möglich: so hofft er erst ihre erheiternde Wirkung zu erleben. Bei uns steht es recht verkehrt und unnatürlich; wir machen den Menschen, die uns durch Kunst erheitern wollen, die grössten Schwierigkeiten, so dass wir von ihnen moralische Genialität und Charactergrösse fordern. Weil den begabtesten Künstlern ihre Bildung so schwer gemacht wird und sie alle Kraft auf den Kampf verschwenden müssen, sind wir Nichtkünstler umgekehrt wieder sehr lax in den moralischen Ansprüchen an uns geworden: die Bequemlichkeit herrscht in den Grundsätzen und Anschauungen des Lebens. So das Leben lässig nehmend verlieren wir das rechte Bedürfniss der Kunst. Wenn das Leben, wie das athenische, Pflicht Aufforderung Unternehmung Mühsal fortwährend im Schoosse trägt, so weiss man auch die Kunst, das Fest und überhaupt die Bildung zu ehren und zu begehren: damit sie erheitert. Und deshalb ist die moralische Schwäche der Deutschen vornehmlich die Ursache davon, dass sie keine Cultur haben. Zwar: sie arbeiten ausserordentlich, alles ist in Hast, der vererbte Fleiss zeigt sich fast als Naturkraft. Worin offenbart sich ihre moralische Schwäche!