Herbst 1873 - Winter 1873-74 31 [1-11]
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Wer die antike Moral kennt, wird sich wundern, wie viel damals moralisch genommen wurde, was jetzt medicinisch behandelt wird, wie viele Störungen der Seele, des Kopfes damals dem Philosophen, jetzt dem Arzt zur Heilung übergeben werden, wie besonders die Nerven und ihre Beruhigung jetzt durch Alkalien oder Narkotika bedacht werden. Die Alten waren viel mässiger und absichtlich mässiger im täglichen Leben: sie wussten sich zu enthalten und sich viel zu versagen, um die Herrschaft über sich nicht zu verlieren. Ihre Worte über Moral gehen überall von dem lebendigen Beispiele solcher aus, die wie diese Worte lauten gelebt haben. Ich weiss nicht, von welchen fernen und seltenen Dingen die modernen Ethiker reden: sie nehmen den Menschen wie ein wunderlich spiritualistisches Wesen, sie scheinen es für unanständig zu halten, den Menschen so nackt-antik zu behandlen und von seinen vielen nöthigen obzwar niedrigen Bedürfnissen zu reden. Die Schamhaftigkeit geht so weit, dass man glauben möchte, der moderne Mensch habe nur noch einen Scheinleib. Ich glaube dass die Vegetarianer, mit ihrer Vorschrift, weniger und einfacher zu essen, mehr genützt haben als alle neueren Moralsysteme zusammen genommen: auf etwas Übertreibung kommt nichts dabei all. Es ist kein Zweifel, dass die einstmaligen Erzieher den Menschen auch wieder eine strengere Diät vorschreiben werden. Man glaubt durch Luft Sonne Wohnung Reisen usw. die modernen Menschen gesund zu machen, eingeschlossen die medicinischen Reize und Gifte. Aber alles, was dem Menschen schwer wird, scheint nicht mehr angeordnet zu werden: auf angenehme und bequeme Art gesund und krank zu sein scheint die Maxime. Doch ist es gerade die fortgesetzte kleine Masslosigkeit, d. h. der Mangel an Selbstzucht, der zuletzt als allgemeine Hast und impotentia sich zeigt.