Ende 1874 37 [1-8]
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Aller Verkehr unter Menschen beruht darauf, dass der eine in der Seele des andern lesen kann; und die gemeinsame Sprache ist der tönende Ausdruck einer gemeinsamen Seele. Je inniger und zarter jener Verkehr wird, um so reicher die Sprache; als welche mit jener allgemeinen Seele wächst oder—verkümmert. Sprechen ist im Grunde ein Fragen des Mitmenschen, ob er mit mir die gleiche Seele hat; die ältesten Sätze scheinen mir Fragesätze und im Accent vermuthe ich den Nachklang jenes ältesten Fragens der Seele an sich selbst, aber in einem andern Gehäuse. Erkennst du dich wieder?—dies Gefühl begleitet jeden Satz des Sprechenden; er macht den Versuch eines Monologs und Zwiegesprächs mit sich selbst. Je weniger er sich wieder erkennt, um so mehr verstummt er, und im erzwungenen Verstummen wird seine Seele ärmer und kleiner. Wenn man die Menschen nöthigen könnte, von jetzt ab zu schweigen: so könnte man sie zu Pferden und Seehunden und Kühen zurückbilden; denn diesen Wesen sieht man an, was es heisst, nicht sprechen können: nämlich so viel als eine dumpfe Seele zu haben.
Nun haben in der That viele Menschen und mitunter die Menschen ganzer Zeiträume etwas von Kühen an sich; ihre Seele liegt dumpf und lässig in sich. Sie mögen springen und grasen und sich anstieren, es ist nur ein elender Rest von Seele unter ihnen gemeinsam. Folglich muss ihre Sprache verarmt sein oder mechanisch werden. Denn es ist nicht wahr, dass die Noth die Sprache erzeuge, die Noth des Individuums; sondern höchstens die Noth einer ganzen Heerde, eines Stammes, aber damit diese als das Gemeinsame empfunden werde, muss schon die Seele weiter als das Individuum ist geworden sein, sie muss auf Reisen gehen, sich wieder finden wollen, sie muss erst sprechen wollen, bevor sie spricht; und dieser Wille ist nichts Individuelles. Dächte man sich ein mythologisches Urwesen, mit hundert Köpfen und Füssen und Händen, als die Form des Urmenschen: so würde es mit sich selbst reden; und erst als es merkte, dass es mit sich wie mit einem zweiten, dritten, ja hundertsten Wesen reden könne, liess es sich in seine Theile zerfallen, die einzelnen Menschen, weil es wusste, dass es nicht ganz seine Einheit verlieren könne: denn diese liegt nicht im Raume, wie die Vielheit dieser hundert Menschen; sondern wenn diese sprechen, fühlt sich das mythologische Ungeheuer wieder ganz und eins.
Und klingt denn wirklich das herrliche Tonwesen einer Sprache nach Noth, als der Mutter der Sprache? Ist nicht alles mit Lust und Üppigkeit geboren, frei und mit den Zeichen betrachtenden Tiefsinns? Was hat der affenartige Mensch mit unsern Sprachen zu thun! Ein Volk, welches sechs Casus hat und seine Verben mit hundert Formen abbeugt, hat eine volle gemeinsame und überströmende Seele; und das Volk, welches eine solche Sprache sich schuf, hat die Fülle seiner Seele auf alle Nachwelt ausgegossen; in einer späteren Zeit werfen sich die gleichen Kräfte in die Form von Dichtern und Musikern und Schauspielern Rednern und Propheten; aber als diese Kräfte noch in der strotzenden Fülle der ersten Jugend waren, erzeugten sie Sprachenbildner: das waren die fruchtbarsten Menschen aller Zeiten, und sie zeichnete aus, was jene Musiker und Künstler zu allen Zeiten auszeichnet: ihre Seele war grösser, liebevoller, gemeinsamer und beinahe mehr in allen als in einem einzelnen dumpfen Winkel lebend. In ihnen sprach die allgemeine Seele mit sich.