Frühjahr-Sommer 1875 5 [101-200]
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Das Humanistische ist von Karl dem Großen mächtig angepflanzt worden, während er gegen das Heidnische mit den härtesten Zwangsmitteln vorgieng. Die antike Mythologie wurde verbreitet, die deutsche wie ein Verbreden behandelt. Ich glaube, hier lag das Gefühl zu Grunde, daß das Christenthum eben schon fertig geworden sei mit der antiken Religion: man fürchtete sie nicht, aber benutzte die auf ihr ruhende Cultur des Alterthums. Die deutsche Götterwelt fürchtete man.— Eine große Äußerlichkeit in der Auffassung des Alterthums, fast nur die Schätzung seiner formalen Fertigkeiten und seiner Kenntnisse, muß hier gepflanzt worden sein. Es sind die Mächte zu nennen, die einer Vertiefung der Einsicht ins Alterthum im Wege gestanden haben. Zunächst 1) wird die alterthümliche Cultur als Reizmittel zur Annahme des Christenthums benutzt: es ist gleichsam das Draufgeld für die Bekehrung. Die Versüßung beim Einschlürfen jenes Giftes. Dann war man der Hülfsmittel der antiken Cultur benöthigt, 2) als Waffen zum geistigen Schutz des Christenthums. Selbst die Reformation konnte die klassischen Studien in diesem Sinne nicht entbehren. Dagegen beginnt nun die Renaissance mit reinerem Sinne die klassischen Studien, aber durchaus auch im christenfeindlichen; sie zeigt ein Erwachen der Ehrlichkeit im Süden, wie die Reformation im Norden. Vertragen konnten sie sich freilich nicht, denn ernstliche Neigung zum Alterthum macht unchristlich. Es ist der Kirche im Ganzen gelungen, den klassischen Studien eine unschädliche Wendung zu geben: der Philologe wurde erfunden, als Gelehrter, der im übrigen Priester oder sonst so etwas ist: und auch im Bereiche der Reformation gelang es, den Gelehrten ebenfalls zu castriren. Deshalb ist Friedrich August Wolf merkwürdig, weil er den Stand von der Zucht der Theologie befreite: aber seine That wurde nicht völlig verstanden, denn ein angreifendes aktives Element, wie es den Poeten-Philologen der Renaissance anhaftet, wurde nicht entwickelt. Die Befreiung kam der Wissenschaft, nicht den Menschen zu Gute.