Frühjahr-Sommer 1875 5 [101-200]
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Kritik der Entwicklung.
Falsche Annahme einer naturgemässen Entwicklung.
Die Entartung ist hinter jeder grossen Erscheinung her; in jedem Augenblick ist der Ansatz zum Ende da. Die Entartung liegt in dem leichten Nachmachen und Äusserlich-Verstehen der grossen Vorbilder: d. h. das Vorbild reizt die eitlern Naturen zum Nachmachen und Gleichmachen oder überbieten.
Die Kette von einem Genius zum andern ist selten eine gerade Linie: so zwischen Aeschylus und Sophocles keineswegs. Es lagen eine Masse Entwicklungswege nach Aeschylus noch offen; Sophocles schlug einen von ihnen ein.
Das Verhängnissvolle aller grossen Begabungen: sie reissen mit sich fort und veröden um sich, wie Rom in einer Einöde liegt. Viele Kräfte, embryonisch noch, werden so erdrückt.
Zu zeigen, wie überwiegend auch in Hellas die Entartung ist, wie selten und kurz das Grosse, wie mangelhaft (von der falschen Seite) geschätzt.
Wie steif müssen die Anfänge der Tragödie bei Thespis gewesen sein! d. h. die kunstmässigen Nachformungen der urwüchsigen Orgien. So war die Prosa erst sehr steif im Verhältniss zur wirklichen Rede.
Die Gefahren sind: man hat die Lust am Inhalte oder man ist gleichgültig gegen den Inhalt und erstrebt Sinnesreize des Klanges usw.
Das Agonale ist auch die Gefahr bei aller Entwicklung; es überreizt den Trieb zum Schaffen.— Der glücklichste Fall in der Entwicklung, wenn sich mehrere Genie’s gegenseitig in Schranken halten.
Ob nicht sehr viele herrliche Möglichkeiten im Keime erstickt sind? Wer würde z. B. Theocrit noch zu seiner Zeit für möglich halten, wenn er nicht da wäre?
Die grösste Thatsache bleibt immer der frühzeitig panhellenische Homer. Alles Gute stammt doch von ihm her: aber zugleich ist er die gewaltigste Schranke geblieben, die es gab. Er verflachte, und deshalb kämpften die Ernstern so gegen ihn, umsonst. Homer siegte immer.
Das Unterdrückende der grossen geistigen Mächte ist auch hier sichtbar, aber welcher Unterschied: Homer oder eine Bibel als solche Macht!
Die Lust am Rausche, die Lust am Listigen, an der Rache, am Neide, an der Schmähung, an der Unzüchtigkeit—alles das wurde von den Griechen anerkannt, als menschlich, und darauf hin eingeordnet in das Gebäude der Gesellschaft und Sitte. Die Weisheit ihrer Institutionen liegt in dem Mangel einer Scheidung zwischen gut und böse, schwarz und weiss. Die Natur, wie sie sich zeigt, wird nicht weggeleugnet, sondern nur eingeordnet, auf bestimmte Culte und Tage beschränkt. Dies ist die Wurzel aller Freisinnigkeit des Alterthums; man suchte für die Naturkräfte eine mässige Entladung, nicht eine Vernichtung und Verneinung.— Das ganze System von neuer Ordnung ist dann der Staat. Er war nicht auf bestimmte Individuen, sondern auf die regulären menschlichen Eigenschaften hin construirt: es zeigt sich in seiner Gründung die Schärfe der Beobachtung und der Sinn für das Thatsächliche, besonders für das Typisch-Thatsächliche, was die Griechen zur Wissenschaft Historie Geographie usw. befähigte. Es war nicht ein beschränktes priesterliches Sittengesetz, welches bei der Gründung des Staates befahl. Woher haben die Griechen diese Freiheit? Wohl schon von Homer; aber woher hat er’s?— Die Dichter sind nicht die weisesten und logisch gebildetsten Wesen; aber sie haben die Lust am einzeln Wirklichen jeder Art und wollen es nicht verneinen, aber doch so mässigen, dass es nicht alles todt macht.