Sommer-Herbst 1884 26 [1-100]
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Das Unfreiwillige im Denken.
Der Gedanke taucht auf, oft vermischt und verdunkelt durch ein Gedränge von Gedanken. Wir ziehen ihn heraus, wir reinigen ihn, wir stellen ihn auf seine Füße und sehen, wie er geht—alles sehr geschwinde! Wir sitzen dann über ihn zu Gericht: denken ist eine Art Übung der Gerechtigkeit, bei der es auch Zeugenverhör giebt. Was bedeutet er? fragen wir und rufen andere Gedanken herbei: das heißt: Der Gedanke also wird nicht als unmittelbar gewiß genommen, sondern nur als ein Zeichen, ein Fragezeichen. Daß jeder Gedanke zuerst vieldeutig und schwankend ist, und an sich nur ein Anlaß zu mehrfacher Interpretation und willkürlicher Festsetzung, ist eine Erfahrungssache jedes Beobachters, der nicht an der Oberfläche bleibt.— Der Ursprung des Gedankens ist uns verborgen; es ist eine große Wahrscheinlichkeit, daß er ein Symptom eines umfänglicheren Zustandes ist, gleich jedem Gefühl—: darin daß gerade er kommt und kein anderer, daß er gerade mit dieser größeren oder minderen Helligkeit kommt, mitunter sicher und befehlerisch, mitunter unsicher und einer Stütze bedürftig, im Ganzen immer beunruhigend und aufregend, fragend—für das Bewußtsein ist jeder Gedanke ein Stimulans—in dem Allen drückt sich irgend Etwas von einem Gesammt-Zustand in Zeichen aus.— Ebenso steht es mit jedem Gefühle—es bedeutet uns nicht an sich Etwas; es wird, wenn es kommt, von uns interpretirt, und oft wie seltsam interpretirt! Man erwäge alle die Nöthe der Gedärme, die krankhaften Zustände des nervus sympathicus, und des ganzen sensorium commune—: nur der anatomisch Unterrichtete räth dabei auf die rechte Gattung von Ursachen; jeder Unwissende aber sucht in solchen Schmerzen eine moralische Erklärung und schiebt dem thatsächlichen Anlasse zu Verstimmungen einen falschen Grund unter, indem er im Umkreis seiner Erlebnisse nach unangenehmen Erfahrungen und Befürchtungen, nach einem Grund sucht, sich schlecht zu befinden.— Auf der Folter bekennt sich fast Jedermann schuldig: im Schmerz, dessen Ursache man nicht weiß, fragt sich der Gefolterte so lange und inquisitorisch, bis er sich oder Andere als schuldig findet, wie z. B. die Purit[aner] den ihrer unvernünftigen Lebensweise häufig anhaftenden Spleen sich moralisch, als Gewissensbiß auslegten.