Mai-Juni 1888 17 [1-9]
17 [3]
[+ + +] Buche nur als verschiedene Formen der Lüge in Betracht gezogen; mit ihrer Hülfe wird an’s Leben geglaubt. “Das Leben soll Vertrauen einflößen: die Aufgabe, so gestellt, ist ungeheuer. Um sie zu lösen, muß der Mensch schon von Natur Lügner sein, er muß mehr als alles Andre Künstler sein ... Und er ist es auch: Metaphysik, Religion, Moral, Wissenschaft—Alles nur Ausgeburten seines Willens zur Kunst, zur Lüge, zur Flucht vor der “Wahrheit”, zur Verneinung der “Wahrheit”. Das Vermögen selbst, Dank dem er die Realität durch die Lüge vergewaltigt, dieses Künstler-Vermögen des Menschen par excellence—er hat es noch mit Allem, was ist, gemein. Er selbst ist ja ein Stück Wirklichkeit, Wahrheit, Natur: wie sollte er nicht auch ein Stück Genie der Lüge sein! ..
Daß der Charakter des Daseins verkannt werde—tiefste und höchste Geheim-Absicht hinter allem, was Tugend, Wissenschaft, Frömmigkeit, Künstlerthum ist. Vieles niemals sehn, Vieles falsch sehn, Vieles hinzusehn: oh wie klug man noch ist, in Zuständen, wo man am Fernsten davon ist, sich für klug zu halten! Die Liebe, die Begeisterung, “Gott”—lauter Feinheiten des letzten Selbstbetrugs, lauter Verführungen zum Leben, lauter Glaube an das Leben! In Augenblicken, wo der Mensch zum Betrognen ward, wo er sich überlistet hat, wo er ans Leben glaubt: oh wie schwillt es da in ihm auf! Welches Entzücken! Welches Gefühl von Macht! Wie viel Künstler-Triumph im Gefühl der Macht! .. Der Mensch ward wieder einmal Herr über den “Stoff”—Herr über die Wahrheit! ... Und wann immer der Mensch sich freut, er ist immer der Gleiche in seiner Freude, er freut sich als Künstler, er genießt sich als Macht, er genießt die Lüge als seine Macht ...
2.
Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens.
Die Kunst als einzig überlegene Gegenkraft gegen allen Willen, zur Verneinung des Lebens, als das Antichristliche, Antibuddhistische, Antinihilistische par excellence.
Die Kunst als die Erlösung des Erkennenden,—dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehn will, des Tragisch-Erkennenden.
Die Kunst als die Erlösung des Handelnden,—dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins nicht nur sieht, sondern lebt, leben will, des tragisch-kriegerischen Menschen, des Helden.
Die Kunst als die Erlösung des Leidenden,—als Weg zu Zuständen, wo das Leiden gewollt, verklärt, vergöttlicht wird, wo das Leiden eine Form der großen Entzückung ist.
3.
Man sieht, daß in diesem Buche der Pessimismus, sagen wir deutlicher der Nihilismus, als die Wahrheit gilt. Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Werthmaaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektiven Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, metaphysischer als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein:—letzteres ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion. Ebenso gilt die Lust als ursprünglicher als der Schmerz: der Schmerz erst als bedingt, als eine Folgeerscheinung des Willens zur Lust (des Willens zum Werden, Wachsen, Gestalten, das heißt zum Schaffen: im Schaffen ist aber das Zerstören eingerechnet) Es wird ein höchster Zustand von Bejahung des Daseins concipirt, aus dem auch der höchste Schmerz nicht abgerechnet werden kann: der tragisch-dionysische Zustand.
4.
Dies Buch ist dergestalt sogar antipessimistisch: nämlich in dem Sinn, daß es Etwas lehrt, das stärker ist als der Pessimismus, das “göttlicher” ist als die Wahrheit. Niemand würde, wie es scheint, einer radikalen Verneinung des Lebens, einem wirklichen Nein thun noch mehr als einem Neinsagen zum Leben ernstlicher das Wort reden, als der Verfasser dieses Buchs. Nur weiß er—er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts Anderes erlebt!—daß die Kunst mehr werth ist als die Wahrheit.
In der Vorrede, mit der Richard Wagner wie zu einem Zwiegespräche eingeladen wird, erscheint dies Glaubensbekenntniß, dies Artisten-Evangelium “die Kunst als die eigentliche Aufgabe des Lebens, die Kunst als dessen metaphysische Thätigkeit ...” [Die Geburt der Tragödie, Vorwort an Richard Wagner (1871): “... der Kunst als der höchsten Aufgabe und der eigentlich metaphysischen Thätigkeit dieses Lebens ...”]
5.
— — —