Mai-Juni 1888 17 [1-9]
17 [4]
Zur
Geschichte des Gottesbegriffs.
1.
Ein Volk, das noch an sich selbst glaubt, hat auch seinen Gott noch. In ihm verehrt es die Bedingungen, durch die es obenauf ist,—es projicirt seine Lust an sich, sein Machtgefühl in ein Wesen, dem man dafür danken kann. Religion, innerhalb solcher Voraussetzungen, ist eine Form der Dankbarkeit. Ein solcher Gott muß nutzen und schaden können, muß Freund und Feind sein können: die widernatürliche Castration eines Gottes zu einem Gott des Guten kommt diesen starken Realisten nicht in den Sinn. Was liegt an einem Volke, das nicht furchtbar sein kann? Was liegt an einem Gotte, der nicht Zorn, Rache, Neid, Gewaltthat und vielleicht nicht einmal die gefährlichen ardeurs der Zerstörung kennt?— Wenn ein Volk zu Grunde geht; wenn es den Glauben an seine Zukunft, an Freiheit und Übermacht schwinden fühlt; wenn ihm die Unterwerfung als erste Nützlichkeit, die Tugenden der Unterworfenen als Erhaltungsbedingungen ins Bewußtsein treten: dann freilich ändert sich auch sein Gott. Er wird Duckmäuser, furchtsam, bescheiden, räth zum “Frieden der Seele”, zum Nicht-mehr-hassen; zur Nachsicht, zur Liebe selbst gegen Freund und Feind. Er kriecht in die Höhle der Privattugend zurück, wird der Gott der kleinen Leute,—er stellt nicht mehr die aggressive und machtdurstige Seele eines Volkes, seinen Willen zur Macht dar ...
2.
Wo dieser Wille, der Wille zur Macht, niedergeht, giebt es jedes Mal décadence. Die Gottheit der décadence, beschnitten an ihren männlichsten Gliedern und Tugenden, wird nunmehr zu einem Gott der Guten. Ihr Cultus heißt “Tugend”; ihre Anhänger sind die “Guten und Gerechten”.— Man versteht, in welchen Augenblicken erst der dualistische Gegensatz eines guten und eines bösen Gottes möglich wird. Denn mit demselben Instinkte, mit dem die Unterworfenen ihren Gott zum “Guten an sich” herunterbringen, streichen sie aus dem Gotte ihrer Überwinder die guten Eigenschaften aus. Sie nehmen Rache an ihren Herren, indem sie deren Gott verteufeln. —
3.
Wie kann man, mit der Einfalt des geistreichen Renan, die Fortentwicklung des Gottesbegriffs vom Gott Israels zum Inbegriffs-Gott alles Guten einen Fortschritt nennen! Als ob Renan ein Recht auf Einfalt hätte! ... Das Gegentheil liegt ja auf der Hand. Wenn die Voraussetzungen eines starken aufblühenden Lebens aus dem Gottesbegriffe eliminirt werden, wenn er Schritt für Schritt zum Symbol der Hülfe für alles Müde, Erschöpfte, bloß noch Vegetirende wird, wenn er Sünder-Gott, Kranken-Gott, Heiland, Erlöser per excellence wird: wovon zeugt das Alles?— Freilich, sein Reich ist größer geworden (—müßte er selbst damit schon größer geworden sein? ..) Ehedem hatte er nur sein Volk, seine “Auserwählten”: jedes Volk hält sich auf seiner Höhe für auserwählt. Inzwischen gieng er auf die Wanderschaft und saß nirgendswo mehr still,—bis er endlich zum Cosmopoliten wurde und die “große Zahl” auf seine Seite bekam. Aber der Gott der “großen Zahl” bleibt nichtsdestoweniger ein Winkelgott, der Gott aller kranken Ecken, aller ungesunden Quartiere der ganzen Welt .. Sein Weltreich ist ein Unterwelt-Reich, ein Souterrain verborgnen Elends ... Und er selbst ist so schwach, so krank! .. Beweis: selbst die Schwächsten der Schwachen, die Metaphysiker und Scholastiker werden über ihn noch Herr,—sie spinnen um ihn herum, in ihn hinein, bis er ihr Abbild, eine Spinne wird. Nunmehr spinnt er die Welt aus sich heraus, nunmehr wird er zum ewigen Metaphysikus, nunmehr wird er “Geist” “purer Geist” ... der christliche Gottesbegriff—Gott als Krankengott, Gott als Spinne, Gott als Geist—ist der niedrigste Gottesbegriff, der auf Erden erreicht wurde: er stellt den Höhepunkt der décadence in der absteigenden Entwicklung der Gottesidee dar. Gott zum Widerspruch des Lebens abgeartet, statt dessen Verklärung und ewiges Ja zu bedeuten; in Gott dem Leben, der Natur, dem Willen zum Leben die Feindschaft angesagt; Gott die Formel für jede Verleumdung des Lebens, für jede Lüge vom “Jenseits”; in Gott das Nichts vergöttlicht, der Wille zum Nichts heilig gesprochen! ... So weit haben wir’s gebracht! ...
Weiß man es noch nicht? das Christenthum ist eine nihilistische Religion—um ihres Gottes willen ...
4.
Daß die jungen starken Rassen des nördlichen Europa den christlichen Gott nicht von sich gestoßen haben, macht ihrer religiösen Begabung wahrlich keine Ehre, um nicht vom Geschmack zu reden. Mit einer solchen krankhaften und altersschwachen Ausgeburt der décadence hätten sie fertig werden müssen. Aber es liegt ein Fluch auf ihnen dafür, daß sie nicht mit ihm fertig geworden sind:—sie haben die Krankheit, den Widerspruch, das Alter in alle ihre Instinkte aufgenommen,—sie haben seitdem keinen Gott mehr geschaffen! Zwei Jahrtausende beinahe: und nicht ein einziger neuer Gott! Sondern immer noch und wie zu Recht bestehend, wie ein ultimatum und maximum der gottbildenden Kraft, des creator spiritus im Menschen, dieser erbarmungswürdige Gott des europäischen Monotono-theismus! dies hybride Verfallsgebilde aus Null, Begriff und Großpapa, in dem alle Décadence-Instinkte ihre Sanktion erlangt haben! ...
5.
— Und wie viele neue Götter sind noch möglich! ... Mir selber, in dem der religiöse, das heißt gottbildende Instinkt mitunter wieder lebendig werden will: wie anders, wie verschieden hat sich mir jedes Mal das Göttliche offenbart! ... So vieles Seltsame gieng schon an mir vorüber, in jenen zeitlosen Augenblicken, die in’s Leben hinein wie aus dem Monde fallen, wo man schlechterdings nicht mehr weiß, wie alt man schon ist und wie jung man noch sein wird ... Ich würde nicht zweifeln, daß es viele Arten Götter giebt .. Es fehlt nicht an solchen, aus denen man selbst einen gewissen Halkyonismus und Leichtsinn nicht hinwegdenken darf ... Die leichten Füße gehören vielleicht sogar zum Begriffe “Gott” .. Ist es nöthig, auszuführen, daß ein Gott sich jeder Zeit jenseits alles Vernünftigen und Biedermännischen zu halten weiß? jenseits auch, anbei gesagt, von Gut und Böse? Er hat die Aussicht frei—mit Goethe zu reden.— Und um für diesen Fall die nicht genug zu schätzende Autorität Zarathustra’s anzurufen: Zarathustra geht so weit, von sich zu bezeugen “ich würde nur an einen Gott glauben, der zu tanzen verstünde” ..
Nochmals gesagt: wie viele neue Götter sind noch möglich!— Zarathustra selbst freilich ist bloß ein alter Atheist. Man verstehe ihn recht! Zarathustra sagt zwar, er würde—; aber Zarathustra wird nicht ...