Sommer 1875 6 [1-51]
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Ich glaube nicht mehr an die “naturgemässe Entwicklung” der Griechen: sie waren viel zu begabt, um in jener schrittweisen Manier, allmählich zu sein, wie es der Stein und die Dummheit sind. Die Perserkriege sind das nationale Unglück: der Erfolg war zu gross, alle schlimmen Triebe brachen heraus, das tyrannische Gelüst ganz Hellas zu beherrschen wandelte einzelne Männer und einzelne Städte an. Mit der Herrschaft von Athen (auf geistigem Gebiete) sind eine Menge Kräfte erdrückt worden; man denke nur, wie unproductiv Athen für Philosophie lange Zeit war. Pindar wäre als Athener nicht möglich gewesen. Simonides zeigt es. Und Empedocles wäre es auch nicht, Heraclit nicht. Alle grossen Musiker kommen fast von Aussen. Die athenische Tragödie ist nicht die höchste Form, die man denken könnte. Den Helden derselben fehlt doch das Pindarische gar zu sehr. Überhaupt: wie grässlich war es, dass der Kampf gerade zwischen Sparta und Athen ausbrechen musste—das kann gar nicht tief genug betrachtet werden. Die geistige Herrschaft Athens war die Verhinderung jener Reformation. Man muss sich einmal dahinein denken, wo diese Herrschaft noch gar nicht da war: nothwendig war sie nicht, sie wurde es erst in Folge der Perserkriege, d. h. erst, nachdem es die physische politische Macht zeigte. Milet war z. B. viel begabter, Agrigent auch.