Sommer 1875 6 [1-51]
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1. Es kommt wohl für jeden eine Stunde, wo er mit Verwunderung vor sich selbst fragt: Wie lebt man nur! Und man lebt doch!—eine Stunde, wo er zu begreifen anfängt, dass er eine Erfindsamkeit besitzt von der gleichen Art wie er sie an der Pflanze bewundert, die sich windet und klettert und endlich sich etwas Licht erzwingt und ein wenig Erdreich dazu und so ihr Theil Freude in einem unwirthlichen Boden sich selber schafft. In den Beschreibungen die einer von seinem Leben macht, giebt es immer solchen Punct, wo man Staunt, wie hier die Pflanze noch leben kann und wie sie doch mit einer unerschütterlichen Tapferkeit daran geht. Nun giebt es Lebensläufte, wo die Schwierigkeiten ins Ungeheure gewachsen sind, die der Denker; und hier muss man, wo etwas davon erzählt wird, aufmerksam hinhören, denn hier vernimmt man etwas von Möglichkeiten des Lebens, von denen nur zu hören Glück und Kraft bringt und auf das Leben der Späteren Licht herabgiesst, hier ist alles so erfinderisch, besonnen, verwegen, verzweifelt und voller Hoffnung, wie etwa die Reisen der grössten Weltumsegler und auch in der That etwas von der gleichen Art, Umsegelungen der entlegensten und gefährlichsten Bereiche des Lebens. Das Erstaunliche in solchen Lebensläuften liegt darin, dass zwei feindselige, nach verschiedenen Richtungen hin drängende Triebe hier gezwungen werden, gleichsam unter Einem Joche zu gehen; der welcher das Erkennen will, muss den Boden, auf dem der Mensch lebt, immer wieder verlassen und sich ins Ungewisse wagen, und der Trieb, der das Leben will, muss immer wieder sich zu einer ungefähr sicheren Stelle hintasten, auf der sich stehen lässt; wir werden an James Cook erinnert, der sich mit dem Senkblei in der Hand durch eine Kette von Klippen hindurch tasten musste, drei Monate lang: und dessen Gefahren oft so anwuchsen, dass er sogar in einer Lage, die er kurz vorher für eine der gefährlichsten gehalten hatte, gerne wieder Schutz suchte. Lichtenberg IV 152. [Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, "Einige Lebensumstände von Capt. James Cook, grösstentheils aus schriftl. Nachrichten einiger seiner Bekannten gezogen." In: Georg Christoph Lichtenberg. Vermischte Schriften. Bd. 4. Göttingen, Dieterich, 1867:152.] Jener Kampf zwischen Leben und Erkennen wird um so grösser, jenes unter Einem Joch Gehen um so seltsamer sein, je mächtiger beide Triebe sind, also je voller und blühender das Leben, und wiederum je unersättlicher das Erkennen ist und je begehrlicher es zu allen Abenteuern hindrängt.
2. Ich werde darum nicht satt, mir eine Reihe von Denkern vor die Seele zu stellen, von denen jeder einzelne jene Unbegreiflichkeit an sich hat und jene Verwunderung erwecken muss, wie er gerade seine Möglichkeit des Lebens fand: die Denker, welche in der kräftigsten und fruchtbarsten Zeit Griechenlands, in dem Jahrhundert vor den Perserkriegen und während derselben lebten: denn diese Denker haben sogar schöne Möglichkeiten des Lebens entdeckt; und es scheint mir, dass die späteren Griechen das Beste davon vergessen haben: und welches Volk könnte bis jetzt sagen, es habe sie wiederentdeckt?— Man vergleiche die Denker anderer Zeiten und andrer Völker mit jener Reihe von Gestalten, die mit Thales beginnt und mit Democrit endet, ja man stelle Socrates und seine Schüler und alle die Sectenhäupter des späteren Griechenlands neben jene Altgriechen hin—nun wir wollen es in dieser Schrift thun und hoffentlich werden es andere noch besser thun: immerhin glaube ich, dass jede Betrachtung mit diesem Ausrufe enden wird: Wie schön sind sie! Ich sehe keine verzerrten und wüsten Gestalten darunter, keine pfäffischen Gesichter, keine entfleischten Wüsten-Einsiedler, keine fanatischen Schönfärber der gegenwärtigen Dinge, keine theologisirenden Falschmünzer, keine gedrückten und blassen Gelehrten: ich sehe auch jene nicht darunter, die es mit dem “Heil ihrer Seele” oder mit der Frage: was ist das Glück, so wichtig nehmen, dass sie Welt und Mitmenschen darüber vergessen.— Wer “diese Möglichkeiten des Lebens” wieder entdecken könnte! Dichter und Historiker sollten über dieser Aufgabe Wüten: denn solche Menschen sind zu selten, dass man sie laufen lassen könnte. Vielmehr sollte man sich gar nicht eher Ruhe geben, als bis man ihre Bilder nachgeschaffen und sie hundertfach an die Wand gemalt hat—und ist man so weit,—dann freilich wird man sich erst recht nicht Ruhe geben. Denn unserer so erfinderischen Zeit fehlt noch immer gerade jene Erfindung, welche die alten Philosophen gemacht haben müssen: woher käme sonst ihre wunderwürdige Schönheit! woher unsre Hässlichkeit!— Denn was ist Schönheit, wenn nicht das von uns erblickte Spiegelbild einer ausserordentlichen Freude der Natur, darüber dass eine neue fruchtbare Möglichkeit des Lebens entdeckt ist? Und was ist Hässlichkeit, wenn nicht ihr Missmuth über sich selbst, ihr Zweifel, ob sie die Kunst zum Leben zu verführen, wirklich noch verstelle?
3. Die griechische Philosophie scheint mit einem ungereimten Einfalle zu beginnen, mit dem Satze, daß das Wasser der Ursprung und der Mutterschooß aller Dinge sei; ist es wirklich nöthig, darf man sich fragen, hierbei stehen zu bleiben und sich ernst zu besinnen?— Ja, und aus drei Gründen: erstens weil der Satz etwas vom Ursprung der Dinge aussagt, zweitens weil er dies ohne Bild und mythische Fabelei thut und endlich drittens, weil in ihm, wenngleich nur im Zustande der Verpuppung, der Gedanke enthalten ist: Alles ist eins. Der erstgenannte Grund läßt Thales noch in der Gemeinschaft mit Religiösen und Abergläubischen, der zweite nimmt ihn aus dieser Gesellschaft heraus und zeigt ihn als ersten Naturforscher, auf den dritten Grund hin gilt Thales als der erste griechische Philosoph. In Thales siegt zum ersten Male der wissenschaftliche Mensch über den mythischen und wieder der weise Mensch über den wissenschaftlichen.