Ende 1876 - Sommer 1877 23 [101-197]
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Da die Kunst immer seelenvoller wird, so bemerken die späteren Meister, daß die Kunstwerke der früheren Zeit ihnen nicht entsprechen und dies veranlaßt sie, da etwas nachzuhelfen und zu glauben daß es nur die technischen Bedingungen sind, welche damals den alten Meistern fehlten. So denkt Wagner, daß Beethoven besser d. h. seelenvoller instrumentirt haben würde, wenn die Instrumente besser gewesen wären; namentlich aber in der Modifikation des Tempo’s, denkt er, daß jener, wie alle früheren, nur ungenügend in der Bezeichnung gewesen wäre. [Vgl. Richard Wagner, Zum Vortrag der neunten Symphonie Beethovens (1873). In: Gesammelte Schriften und Dichtungen. Bd. 9. Leipzig: Fritzsch, 1873:277-282.] In Wahrheit ist die Seele aber noch nicht so zart bewegt, so lebendig in jedem Augenblick gewesen. Alle ältere Kunst war starr, steif; in Griechenland wie bei uns. Die Mathematik, die Symmetrie, der strenge Takt herrschten.— Soll man den modernen Musikern das Recht geben, ältere Werke mehr zu beseelen?— Ja; denn nur dadurch daß wir ihnen unsere Seele geben, leben sie noch fort. Wer die dramatische seelenvolle Musik kennt, wird Bach ganz anders vortragen, unwillkürlich. Hört er ihn anders vortragen, so versteht er ihn nicht mehr. Ist ein historischer Vortrag überhaupt möglich?