Ende 1876 - Sommer 1877 23 [101-197]
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Die Kunst gehört nicht zur Natur, sondern allein zum Menschen.— In der Natur giebt es keinen Ton, diese ist stumm; keine Farbe. Auch keine Gestalt, denn diese ist das Resultat einer Spiegelung der Oberfläche im Auge, aber an sich giebt es kein Oben und Unten, Innen und Außen. Könnte man anders sehen, als vermöge der Spiegelung, so würde man nicht von Gestalten reden, sondern vielleicht in’s Innre sehen, so daß der Blick ein Ding allmählich durchschnitte. Die Natur, von welcher man unser Subjekt abzieht, ist etwas sehr Gleichgültiges, Uninteressantes, kein geheimnißvoller Urgrund, kein enthülltes Welträthsel; wir vermögen ja durch die Wissenschaft vielfach über die Sinnesauffassung hinaus zu kommen, z. B. den Ton als eine zitternde Bewegung zu begreifen; je mehr wir die Natur entmenschlichen, um so leerer bedeutungsloser wird sie für uns.— Die Kunst beruht ganz und gar auf der vermenschlichten Natur, auf der mit Irrthümern und Täuschungen umsponnenen und durchwebten Natur, von der keine Kunst absehen kann; [sie] erfaßt nicht das Wesen der Dinge, weil sie ganz an das Auge und das Ohr angeknüpft ist. Zum Wesen führt nur der schließende Verstand. Er belehrt uns z. B. [daß] die Materie selbst ein uraltes eingefleischtes Vorurtheil ist, daher stammend daß das Auge Spiegelflächen sieht und das menschliche Tastorgan sehr stumpf ist: wo man nämlich widerstrebende Punkte fühlt, so construirt man sich unwillkürlich widerstrebende continuirliche Ebenen (welche aber nur in unserer Vorstellung existiren), unter der angewöhnten Illusion des spiegelnden Auges, welches im Grunde eben auch nur ein grobes Tastorgan ist. Ein Ball von elektrischen Strömungen, welche an bestimmten Punkten umkehren, würde sich als etwas Materielles, als ein festes Ding anfühlen: und das chemische Atom ist ja eine solche Figur, welche von den Endpunkten verschiedener Bewegungen umschrieben wird. Wir sind jetzt gewöhnt, Bewegtes und Bewegung zu scheiden; aber wir stehen damit unter dem Eindrucke uralter Fehlschlüsse: das bewegte Ding ist erdichtet, hineinphantasirt, da unsere Organe nicht fein genug sind, überall die Bewegung wahrzunehmen und uns etwas Beharrendes vorspiegeln: während es im Grunde kein “Ding,” kein Verharrendes giebt.