Herbst 1880 6 [1-100]
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Unsere Triebe toben sich in den Listen und Künsten der Metaphysiker aus, sie sind die Apologeten des menschlichen Stolzes: die Menschheit kann ihre verlorenen Götter nicht verschmerzen! Gesetzt, diese Leidenschaft rast sich aus: welcher Zustand der Ermattung, der Blässe, der erloschenen Blicke! Das höchste Mißtrauen gegen den Intellekt als Werkzeug der Triebe: die Nachgeburt des Stolzes ist die Skepsis. Die peinliche Inquisition gegen unsere Triebe und deren Lügnerei. Es ist eine letzte Rache, in dieser Selbstzermalmung ist der Mensch immer noch der Gott, der sich selber verloren hat. Was folgt auf diese gewaltsame Skepsis? Die Erschöpfung, die zweite Erschöpfung, ein Greisenthum: alle Vergangenheit wird matt empfunden, die Verzweiflung selber wird zur Historie, und zuletzt ist das Wissen um alle diese Dinge noch ein genügender Reiz für diese Greise. —
Diese ganze Geschichte spielt sich in immer wenigeren Köpfen ab. Aber der Verlust des Glaubens wird ruchbar unter allen Übrigen—und nun folgt nach: das Aufhören der Furcht, der Autorität, des Vertrauens, das Leben nach dem Augenblick, nach dem gröbsten Ziele, nach dem Sichtbarsten: eine umgekehrte Bewegung leitet sich ein. Das Vertrauen ist noch am größten für das, was dem früheren Ziele am entgegengesetzt[est]en ist! Ein Versuchen und Experimentiren, ein Gefühl der Unverantwortlichkeit, die Lust an der Anarchie! An die Stelle des Stolzes ist die Klugheit getreten. Die Wissenschaft tritt in ihren Dienst. Eine gemeinere Gattung von Menschen bekommt das Regiment (statt der noblesse oder der Priester): erst die Kaufleute, nachher die Arbeiter. Die Masse tritt auf als Herrscher: das Individuum muß sich zur Masse lügen.— Nun werden immer noch solche geboren, die in früheren Zeiten zu der herrschenden Klasse der Priester, Adels, Denker gehört hätten. Jetzt überschauen sie die Vernichtung der Religion und Metaphysik, Noblesse und Individual-Bedeutung. Es sind Nachgeborene. Sie müssen sich eine Bedeutung geben, ein Ziel setzen um sich nicht schlecht zu befinden. Lüge und heimliche Rückflucht zum Überwundenen, Dienst in nächtlichen Tempeltrümmern sei ferne! Dienst in den Markthallen ebenfalls! Sie ergreifen die Theile der Erkenntniß, welche durch das Interesse der Klugheit nicht gefördert werden! Ebenso die Künste, welchen der moderne Geist abhold ist! Sie sind die Beobachter der Zeit und leben hinter den Ereignissen. Sie üben sich, sich frei von der Zeit zu machen und sie nur zu verstehen, wie ein Adler, der darüber fliegt. Sie beschränken sich zur größten Unabhängigkeit und wollen nicht Bürger und Politiker und Besitzer sein. Sie reserviren hinter allen Vorgängen die Individuen, erziehen sie—die Menschheit wird sie vielleicht einst nöthig haben, wenn der gemeine Rausch der Anarchie vorüber ist. Pfui über die, welche sich jetzt zudringlich den Massen als ihre Heilande anbieten! Oder den Nationen! Wir sind Emigranten.— Wir wollen auch das böse Gewissen für die Wissenschaft im Dienste der Klugen sein! Wir wollen bereit sein! Wir wollen Todfeinde derer von den Unseren sein, welche zur Verlogenheit Zuflucht nehmen und Reaktion wollen!— Es ist wahr, wir stammen von Fürsten und Priestern ab: aber eben deshalb halten wir unsere Ahnen hoch, weil sie sich selber überwunden haben. Wir würden sie schänden, wenn wir ihr Größtes verleugneten! Was gehen uns also die Fürsten und Priester der Gegenwart an, welche durch den Selbstbetrug leben müssen und wollen!