Herbst 1880 6 [1-100]
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Die Musik hat keinen Klang für die Entzückungen des Geistes; will sie den Zustand von Faust und Hamlet und Manfred wiedergeben, so läßt sie den Geist weg und malt Gemüthszustände, die höchst unangenehm sind ohne Geist und gar nicht zum Ansehen taugen; sie vergröbert und malt die Mißvergnügtheit und den Jammer, vielleicht mit musikalischem Geiste; aber wie schrecklich ist diese Kunst, wenn sie ohne Auswahl das Häßliche malt: welche Martern sind den Tönen zu eigen, den aufdringlichen Tönen!— Liegt es daran, daß unter den Musikern ein feiner und wohlgestalteter Geist überhaupt selten ist? Daß sie das Fühlen in sich nie isoliren und seine Strahlenbrechung und Farbigkeit im Blitz des Gedankens nicht kennen? Sie müssen alle Zustände vergröbern, gleichsam ins Unmenschliche zurückübersetzen: wie als ob die Gedanken und die Worte noch nicht erfunden seien. Dies ist übrigens ein großer Reiz: es ist Urnatur in der Musik: sie gehört in die Zeit, wo man die wilde Natur der Landschaft verehrt und die Hochgebirge entdeckt hat. Einer Gesellschaft, welche den geistigen Genüssen nicht gewachsen ist, welche selbst zu gedankenarm für Gemälde ist, und überhaupt ihre Kopf-Kraft schon verthan hat, wenn sie sich anschickt, sich zu ergötzen, bleibt der Appell an die Gefühle und Sinne: und in diesen bietet der Musiker die anständigste Ergötzung. Schon gemeiner ist der Theatergenuß, mit dem Conterfei menschlicher Vorgänge und dem groben Reize der direkten Nachahmung aufregender Scenen. Ein Schritt weiter: und wir haben, zur Erholung, die Erregung der Triebe durch Getränke, usw.— Der Dichter steht höher als der Musiker, er macht höhere Ansprüche, nämlich an den ganzen Menschen: und der Denker macht noch höhere Ansprüche: er will die ganze ges[ammelte] frische Kraft und fordert nicht zum Genießen sondern zum Ringkampf und zur tiefsten Entsagung aller persönlichen Triebe auf.