Herbst 1880 6 [1-100]
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das Ich ist nicht die Stellung Eines Wesens zu mehreren (Triebe, Gedanken usw.) sondern das ego ist eine Mehrheit von personenartigen Kräften, von denen bald diese, bald jene im Vordergrund steht als ego und nach den anderen, wie ein Subjekt nach einer einflußreichen und bestimmenden Außenwelt, hinsieht. Das Subjekt springt herum, wahrscheinlich empfinden wir die Grade der Kräfte und Triebe, wie Nähe und Ferne und legen uns wie eine Landschaft und Ebene aus, was in Wahrheit eine Vielheit von Quantitätsgraden ist. Das Nächste heißt uns “ich” mehr als das Entferntere, und gewöhnt an die ungenaue Bezeichnung “ich und alles andere, tu,” machen wir instinktiv das Überwiegende mentan zum ganzen ego und alle schwächeren Triebe stellen wir perspektivisch ferner und machen daraus ein ganzes Du oder “Es.” Wir behandeln uns als eine Mehrheit und tragen in diese “socialen Beziehungen” alle die socialen Gewohnheiten, die wir gegen Menschen Thiere Gegenden Dinge haben. Wir verstellen uns, setzen uns in Angst, machen Parteiungen, führen Gerichtsscenen auf, überfallen uns, martern uns, verherrlichen uns, machen aus dem und jenem in uns unseren Gott und unseren Teufel und sind so unredlich und so redlich als wir es in Gegenwart der Gesellschaft zu sein pflegen.— Alle socialen Beziehungen auf den Egoismus zurückzuführen? Gut: für mich ist aber auch wahr daß alle egoistischen inneren Erlebnisse auf unsere eingeübten angelernten Stellungen zu Anderen zurückzuführen sind. Welche Triebe hätten wir, die uns nicht von Anfang an in eine Stellung zu anderen Wesen brächten, Ernährung z. B., Geschlechtstrieb? Das, was Andere uns lehren, von uns wollen, uns fürchten und verfolgen heißen, ist das ursprüngliche Material unseres Geistes: fremde Urtheile über die Dinge. Jene geben uns unser Bild von uns selbst, nach dem wir uns messen, wohl und übel mit uns zufrieden sind! Unser eigenes Urtheil ist nur eine Fortzeugung der combinirten fremden! Unsere eigenen Triebe erscheinen uns unter der Interpretation der Anderen: während sie im Grunde alle angenehm sind, sind sie doch durch die angelernten Urtheile über ihren Werth so gemischt mit unangenehmen Beigefühlen, ja manche werden als schlechte Triebe jetzt empfunden: “es zieht hin, wohin es nicht sollte”—während schlechter Trieb eigentlich eine contradictio in adjecto ist.— Was will also Egoismus sagen! Wir können innerhalb unser selber wieder egoistisch oder altruistisch, hartherzig, großmüthig, gerecht milde verlogen sein, wehe thun oder Lust machen wollen: wie die Triebe im Kampfe sind, ist das Gefühl des Ich immer am stärksten dort, wo gerade das Übergewicht ist.