Winter 1884-85 32 [1-22]
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Der Rundgesang.
Als sie aber lange so gestanden hatten und die Heimlichkeit der Nacht ihnen näher und näher ans Herz kam, da geschah das, was an jenem erstaunlichen langen Tage das Erstaunlichste war. Zuerst nämlich begann der häßlichste Mensch von Neuem zu gurgeln und zu schnauben: als er es aber bis zu Worten gebracht hatte, da kam eine Frage klar und deutlich aus seinem Munde, die Allen, die sie hörten, das Herz im Leibe umdrehte.
Meine Freunde insgesamt, sprach der häßlichste Mensch, was dünket euch? Um dieses Tags Willen—ich bin’s zum ersten Male zufrieden, daß ich dies ganze Leben lebte.
Und daß ich soviel bezeuge, ist mir noch lange nicht genug. Es lohnt sich auf der Erde zu leben; Ein Tag mit Zarathustra zusammen lehrte mich die Erde lieben.
“War Das—das Leben? will ich zum Tode sprechen. Wohlan! Noch Ein Mal! Um Zarathustra’s Willen!”
Meine Freunde, was dünket euch? Wollt ihr nicht gleich mir zum Tode sprechen: “War Das—das Leben? Um Zarathustra’s Willen—wohlan! Noch Ein Mal!” —
Und du unser Arzt und Heiland—laß uns, oh Zarathustra, fürderhin mit dir gehen!
Also sprach der häßlichste Mensch; es war aber nicht lange vor Mitternacht.
Da griff Zarathustra ungestüm nach seiner Hand, preßte sie in seine Hände und rief erschüttert aus, mit der Stimme eines Solchen, dem ein kostbares Geschenk und Kleinod unversehens vom Himmel fällt:
“Wie? Du sprichst das, mein Freund? Dies ist dein Wille? Dies ist dein ganzer letzter bester größter Wille? Wohlan! Sprich es noch Ein Mal!” — —
Und der häßlichste Mensch that, wie ihm geheißen wurde: sobald aber die andern höheren Menschen sein Gelöbniß hörten, wurden sie sich mit Einem Male ihrer Verwandlung und Genesung bewußt, und wer ihnen dieselbe geschenkt habe: da sprangen sie auf Zarathustra zu, dankend, verehrend, liebkosend oder ihm die Hände küssend, so wie es der Art eines Jeden gegeben war: also daß Einige lachten, Einige weinten. Der alte Wahrsager aber tanzte vor Vergnügen, und wenn er auch, wie Manche meinen, damals voll süßen Weins war, so war er sicherlich noch voller des süßen Lebens und hatte aller Müdigkeit abgesagt. Es giebt sogar Solche, die erzählen, daß damals der Esel getanzt habe; der häßlichste Mensch nämlich habe ihm vorher Wein zu trinken gegeben statt Wasser, damals als er ihn als seinen neuen Gott anbetete. Dies mag sich nun so verhalten oder auch anders—und wahrlich, nicht alle, welche die Historie Zarathustras erzählen, werden’s glauben—: gewißlich aber wäre der häßlichste Mensch auch dieser Schlechtigkeit fähig gewesen.
Zarathustra selber aber gab Acht darauf, wie der Wahrsager tanzte und zeigte mit den Fingern darnach; dann aber entriß er sich mit Einem Rucke dem Gedränge der Liebenden und Verehrenden, legte den Finger an den Mund und gebot Stille. Um jene tiefe Nachtstunde war es, daß Zarathustra den großen Rundgesang anstimmte, in welchen seine Gäste der Reihe nach einfielen; der Esel aber, der Adler und die Schlange horchten zu, ebenso wie die Höhle Zarathustras zuhörte und die Nacht selber. Dieser Rundgesang aber lautete also:
Erhebt eure Herzen, meine Brüder, hoch! höher!—aber vergeßt mir auch die Beine nicht! Erhebt auch eure Beine, ihr guten Tänzer, und besser noch, ihr steht auch auf eurem Kopfe!
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!
Da fiel der alte Wahrsager ein: “Es giebt auch im Glücke schweres Gethier, es giebt Plumpfüßler von Anbeginn. Wunderlich mühn sie sich ab, einem Elephanten gleich, der sich müht, auf dem Kopf zu stehn.
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!”
Da fiel der häßlichste Mensch ein: “Besser noch, plump tanzen als auf lahmen Beinen gehn, besser närrisch sein vor Glücke als Unglücke. Dies aber ist Zarathustras beste Wahrheit: auch das schlimmste Ding hat zwei gute Kehrseiten.
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!”
Da fiel der alte Zauberer ein: “Nun verlernte ich das Trübsal-Blasen und alle Nachtwächter-Traurigkeit. Dem Winde will ich’s gleich thun, der alle Himmel hell und alles Meer brausen macht: Zarathustra will ich’s nunmehr gleich thun.
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!”
Da fiel der König zur Rechten ein: “Schüttelt mich zusammen mit allen Erden-Thränen und Menschen-Jammer, immer wieder werde ich obenauf sein wie Oel auf Wasser. Das aber lernte ich diesem Zarathustra ab.
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!”
Da fiel der König zur Linken ein: “Und muß ich der Erde einmal gram sein: des Himmels Sterne reißt da meine Bosheit noch herab zur Erde: das ist so die Art aller Zarathustra-Rache.
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!”
Da fiel der gute Europäer ein: “Und wenn es auf Erden auch Moore und Trübsal giebt und ganze Meere schwarzen Schlamms: wer leichte Füße hat, gleich Zarathustra, läuft über Schlamm noch dahin, schnell wie über gefegtem Eise.
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!”
Da fiel der freiwillige Bettler ein: “Der Schritt verräth, ob Einer schon auf seiner Bahn schreitet: seht Zarathustra gehn! Wer aber seinem Ziele nahe kommt, der—tanzt.
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!”
Da fiel der Gewissenhafte des Geistes ein: “Krumm kommen alle guten Dinge ihrem Ziele nahe, gleich Katzen machen sie da Buckel sie schnurren innewendig vor ihrem nahen Glücke, alle guten Dinge lachen.
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!”
Da fiel der alte Papst ein: “Welches war hier auf Erden bisher die größte Sünde? Das war das Wort dessen, der sprach: “Wehe denen, die hier lachen!”
Horch! Horch! Es naht die tiefe Mitternacht!”