Winter 1884-85 32 [1-22]
32 [8]
Das Heimweh ohne Heim. Der Wanderer.
1 : also daß wenig mir zum ewigen Juden fehlt, es sei denn, daß ich weder ewig und auch nicht Jude bin.
2 — was um mich wohnt, das wohnt sich bald auch ein.
3 — wenn der Teufel sich häutet, fällt auch sein Name ab: der ist auch Haut.
4 — nur wer weiß, wohin er fährt, weiß auch, was sein Fahrwind ist
5 — er hat sein Ziel verloren: wehe, wie wird er seinen Verlust verscherzen und verschmerzen!
6 — er redet ihnen ein, sie hätten den Weg verloren—dieser Schmeichler! Es schmeichelt ihnen, daß sie einen Weg haben sollen!
7 — das klärte sich auf: nun geht es mich nichts mehr an.— Hüte dich, du könntest über zu-Viel aufgeklärt werden!
8 — auch der Heiligste denkt: “ich will leben, wie ich Lust habe—oder ich habe keine Lust mehr zu leben!
9 — wo darf ich heimisch sein? Darnach suchte ich am Längsten: das Suchen blieb meine stäte Heimsuchung.
10 — ich wollte es nicht vorher, so muß ich es schon nachher wollen—Alles muß ich also “gut machen”
11 — nun lebt keiner mehr—den ich liebe: wie sollte ich noch mich selber ertragen!
12 — diese Käfiche und engen Herzen—wie wollten sie freien Geistes sein! Und wer nicht alle Verbrechen gethan hat, wie —
13 — die Eintagslehrer und andere Schmeißfliegen
14 — wo Gold klingelt, wo die Hure herrscht, wo man nur mit Handschuhen greifen und angreifen darf
15 — die Allzuschamhaften, die man noch zu dem zwingen und nothzüchtigen muß, was sie am liebsten möchten
16 — erreglich an Hirn- und Schamtheilen, gleich Juden und Chinesen
17 — solche, die man mit erhabenen Gebärden überzeugt, aber mit Gründen mißtrauisch macht
18 — wie sicher ist dem Unstäten auch ein Gefängniß! Wie ruhig schlafen eingefangene Verbrecher!
19 “siehe dich vor, daß du der Wahrheit nicht zu nahe auf dem Fuße folgst: sie dürfte dir sonst den Kopf eintreten!
20 “Wie? Du nennst dich einen freien Geist? Hast du schon alle Verbrechen gethan? dein verehrendes Herz zerbrochen?
21 — ausgetrocknete sandige Seelen, trockne Flußbetten: wie—freie Geister?
22 — er strebte ins Verbotene: das ist der Ursprung aller seiner Tugend.
23 — bist du in fernsten und kältesten Gedanken umgegangen, einem Gespenste gleich auf Winterdächern?
24 — aufgewirbelt, umhergetrieben, unstät: auf allen Oberflächen habe ich schon einmal geschlafen, als Staub saß ich schon auf jedem Spiegel, jeder Fensterscheibe
25 es steht schlimmer als ihr denkt: mancher meinte zu lügen, und da erst traf er die Wahrheit! —
26 — diese Schwerfälligen Geängstigten, welche ihr Gewissen grunzen macht: denen gleiche ich nicht
27 — was macht Europa?— Oh das ist ein krankes wunderliches Weibchen: das muß man rasen schreien und Tisch und Teller zerbrechen lassen, sonst hat man nimmer vor ihm Ruhe: ein Weib, das an dem, was es liebt, leiden will.
28 — denkendere Zeiten, zerdachtere Zeiten, als unser Heut und Gestern ist
29 — ach, wohin ist das Gute und der Glaube der Guten! Ach, wohin ist die Unschuld aller dieser edlen Lügen!
30 — der Gott, den sie sich einst aus Nichts geschaffen—was Wunders! er ist ihnen nun zu Nichts geworden
31 — übereilig gleich springenden Spinnaffen
32 — ein kaltes Bad—willst du da hinein mit deinem Kopf und Herzen? Oh wie bald wirst du als rother Krebs dastehen! (Zarathustra sieht einen feuerrothen Menschen kommen)
33 — zwischen Särgen und Sägespähnen leben; ich hatte keine Lust zum Handwerk der Todtengräber
34 — “nichts ist wahr! alles ist erlaubt!” ich habe alle Verbrechen begangen: die gefährlichsten Gedanken, die gefährlichsten Weiber
35 — einst gieng mein Sinn auf Weniges und Langes: aber wo fände sich das heute! so verachte ich denn die kleinen kurzen Schönheiten nicht
36 — wie wenig reizte die Erkenntniß, wenn nicht auf dem Wege zu ihr so viel Scham zu überwinden wäre —
37 — die Erkennenden von heute, welche lehren: einst geschah’s, daß Gott zum Thier werden wollte—: Gott selbst als Thier: siehe, das ist der Mensch!
38 — ein freier Geist, aber ein schwacher Wille; Flatter-Flügel, aber ein gebrochenes Rückgrat
39 — bald sperren sie sich, bald zerren sie sich, diese lieben Vaterländer
| 1, 9, 24, 2, 39, 13, 14 |
| 6, 5, 4, 35, 8, 37, 30 |
| 38, 11, 10 |
| 21, 32, 33, 23, 27, 16, 28 |
| 15, 36, 22, 20, 34, 7, 25, 3, 16, 26, 29 |
| 18, 12 |
| 19 |
Der gute Europäer
1, 9, 24, 2 (lachend über die Vaterländer) Heimatlos, Herumstreicher 13, 14 genüßlich 8
6, 5, 4, 35 ziellos, durch Nichts im Zaum gehalten 37, 30, 38 schwachen Willens 11, 10
21, 32, 33 an die stärksten (stimulantesten) Gedanken, die kältesten Bäder 23 gewohnt:
27 voraus: das heißt Europäerthum
16, 28 und greise Völker gleich Juden
15, 36 (Scham überwinden— —22, 20 Verbrechen des Gedankens 34 “alles ist erlaubt”
7, 25, 3, 16, 26, 29 voller Hohn über die Moral
18, 12 Gefahr in einen Käfich sich selber einzufangen
19 des Geistes müde, verekelt