Winter 1884-85 32 [1-22]
32 [14]
Die letzte Sünde.
1.
Aber was geschah damals mit Zarathustra selber?— Ja, wer möchte das errathen, was sich in jener Nacht mit ihm zutrug!— Er fiel nämlich, als er das Glück seiner höheren Menschen sah, mit einem Male nieder wie ein Eichbaum, der lange vielen Holzschlägern widerstanden hat—, schwer, plötzlich, zum Schrecken für die selber, welche ihn fällen wollten. Die Axt aber, die Zarathustra darniederschlug—Mitleiden hieß diese Axt, Mitleiden mit dem Glück dieser höheren Menschen.
2.
Die höheren Menschen stürzten hinzu, als er so zu Boden lag, daß sie ihm wieder aufhülfen: aber schon sprang er von selber empor, stieß alle von sich, die sich um ihn drängten und schrie: “Fort! Fort! Fort!” “Laßt mich davon,” schrie er, so schmerzlich und schrecklich, daß seinen Freunden das Herz erstarrte; und ehe nur eine Hand sich ausstreckte, ihn zurückzuhalten, zog er sein Gewand über den Kopf, lief in die schwarze Nacht hinaus und war verschwunden.
Da nun standen seine Freunde eine lange Weile betäubt und stumm, denn sie waren in diesen Bergen fremd, und niemand hätte um diese Stunde auch nur hundert Schritt weit einen Weg gefunden. Es gieng nämlich gegen Mitternacht. So traten sie, als sie sich nicht zu helfen und zu rathen wußten, endlich wieder in die Höhle Zarathustra’s, ob sie ihnen gleich traurig und kalt dünkte, und ertrugen daselbst die Nacht, mit wenig Schlaf und vielen schlimmen Gedanken und Gespenstern.
Es geschah aber um die Stunde der ersten Früh-Dämmerung, daß jener Wanderer, welcher sich den Schatten Zarathustra’s nannte, seine Gefährten heimlich verließ und vor der Höhle nach dem Verlorenen ausspähete. Und nicht lange darauf rief er in die Höhle hinein: “dort kommt Zarathustra!” Da warfen sie Alle den Schlaf und die schlimmen Gedanken von sich und sprangen auf, voller Hoffnung, daß es nun wieder Tag werde. Als sie aber mit einander ausspäheten—und auch der Esel war mit ihnen hinausgegangen und spähete nach Zarathustra—siehe, da gewahrten sie in der Ferne ein seltsames Schauspiel. Zarathustra kam nämlich des Wegs herauf, langsam, langsam. bisweilen stand er still und blickte zurück: hinter ihm aber schritt ein mächtiges gelbes Thier, gleich Zarathustra selber zögernd, langsamen Ganges und oft zurückblickend. Immer aber wenn Zarathustra den Kopf nach ihm umwandte, kam es einige Schritte schneller vorwärts, dann aber zögerte es wieder. Was geschieht da? fragten sich da die höheren Menschen, und ihre Herzen klopften; denn sie argwöhnten, daß dieses mächtige gelbe Thier ein Löwe des Gebirges sei. Und siehe, plötzlich wurde der Löwe ihrer gewahr: da stieß er ein wildes Gebrüll aus und sprang auf sie los: also daß diese alle mit Einem Mund aufschrieen und davon flohen. Und in Kürze war Zarathustra allein und stand staunend am Eingange seiner Höhle. “Was geschah mir doch?” sagte er zu seinem Herzen, während der starke Löwe schüchtern sich an seine Kniee drängte. “Was hörte ich doch eben für einen Nothschrei!” Da aber kam ihm die Erinnerung, und er begriff mit Einem Male Alles, was geschehen war. Hier ist der Stein, sprach er frohlockend, auf dem saß ich gestern am Morgen: da hörte ich den gleichen Schrei. Oh ihr höheren Menschen, es war ja euer Nothschrei!
Und meine Noth war’s vor der jener alte Wahrsager gestern am Morgen mich warnte; zu meiner letzten Sünde wollte er mich verführen, zum Mitleiden mit eurer Noth!
Aber euer Glück war meine Gefahr—: Mitleiden mit euerm Glücke, das—errieth er nicht! Oh was erriethen diese höheren Menschen wohl von mir!
Wohlan! sie sind davon—und ich gieng nicht mit ihnen: oh Sieg! oh Glück! Dies gerieth mir gut!
Du aber, mein Thier und Wahrzeichen, du lachender Löwe, du bleibst bei mir! Wohlan! Wohlauf! Du kamst mir zu Ehren und zur rechten Zeit, du bist mein drittes Ehren-Thier!
Also sprach Zarathustra zu dem Löwen und setzte sich auf den Stein nieder, an dem er Tags zuvor gesessen hatte, mit einem tiefen Aufathmen—: da aber blickte er fragend in die Höhe—er hörte nämlich über sich den scharfen Ruf seines Adlers.
Meine Thiere kehren zurück, meine zwei alten Ehrenthiere, rief Zarathustra und frohlockte in seinem Herzen: Erkunden sollten sie, ob meine Kinder unterwegs sind und zu mir kamen. Und wahrlich, meine Kinder kamen, denn der lachende Löwe kam. Oh Sieg! Oh Glück!