Winter 1884-85 32 [1-22]
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Der Wissen- und Gewissenhafte.
— Ein Erkennender von heute, welcher fragt: was ist doch der Mensch? Gott selber als Thier? Einstmals nämlich, dünkt mich, wollte Gott zum Thiere werden.
— kalte kühle Menschen, solche denen man ihre Thorheiten nicht glauben will: man legt sie schlimm aus als schlimme Klugheiten.
— ohne Gründe habt ihr dies einst glauben gelernt: wie könnte ich wohl durch Gründe euch diesen Glauben umwerfen!
— ist nicht das Loben zudringlicher als alles Tadeln? Ich verlernte auch das Loben, es fehlt darin an Scham.
— diese Wissen- und Gewissenhaften; wie sie mit schonender Hand—tödten!
— ihr Gedächtniß sagt “das that ich,” ihr Stolz aber sagt “das konntest du nicht thun”: und läßt sich nicht erbitten. Zuletzt — giebt ihr Gedächtniß nach.
— er hat kalte vertrocknende Augen, vor ihm liegt jedwedes Ding entfedert und ohne Farbe, er leidet an seiner Ohnmacht zur Lüge und heißt sie “Wille zur Wahrheit”!
— er schüttelt sich, blickt um sich, streicht mit der Hand über den Kopf, und nun läßt er sich einen Erkennenden schelten. Aber Freiheit vom Fieber ist noch nicht “Erkenntniß.”
— die Fieberkranken sehen alle Dinge als Gespenster, und die Fieberlosen als leere Schatten—und doch brauchen sie beide die gleichen Worte.
— Aber du Kluger wie konntest du so handeln! Es war eine Dummheit!— “Es ist mir auch schwer genug geworden.”
— Geist haben ist heute nicht genug: man muß ihn noch sich nehmen, sich Geist “herausnehmen”; dazu gehört viel Muth.
— es giebt auch solche, die verdorben sind zum Erkennen, weil sie Lehrer sind: sie nehmen nur um des Schülers Willen die Dinge ernst und sich selber mit.
— da stehen sie da, die schweren granitnen Katzen, die Werthe aus Urzeiten: und du, oh Zarathustra, du willst sie umwerfen?
— ihr Sinn ist ein Wider-Sinn, ihr Witz ist ein Doch- und Aberwitz.
— jene Fleißigen Treulichen, denen jeder Tag goldhell und gleich herauffließt
— wie ein Wanderer, der von fernen Dingen träumt, unversehens auf einsamer Straße einen schlafenden Hund anstößt: wie Todfeinde fahren Beide sich an, zum Tod erschreckt. Und doch! wie wenig fehlt im Grunde daß sie einander streichen, liebkosten, trösten: diese zwei Einsamen!
— hartnäckige Geister, fein und kleinlich
— gieb mir zu rathen: dein Beweisen ermüdet den Hunger meines Geistes.
— du fühlst noch nicht einmal, daß du träumst: oh, da bist du noch fern vom Aufwachen!
— mein Freund, die Tugend thut kein Ding mit “um” und “weil” und “damit” sie hat kein Ohr für solche kleinen Worte.
— voll tiefen Mißtrauens, überwachsen vom Moose der Einsamkeit, langen Willens, ein Schweigsamer, du Feind aller Lüsternen
— nicht für seinen Glauben wird er verbrannt, von innen her, mit kleinem grünem Holze: sondern dafür, daß er zu seinem Glauben heute keinen Muth mehr finden kann
— unbehülflich wie ein Leichnam, im Leben todt, vergraben, versteckt: er kann nicht mehr stehen, dieser Kauernde, Lauernde: wie könnte er jemals—auferstehen!
— es ist nicht genug, daß der Blitz nicht mehr schadet, er soll lernen, für mich zu arbeiten.
— du wolltest ihnen Licht sein, aber du hast sie geblendet. Deine Sonne selber stach ihnen die Augen aus.
— wie geschah es doch, daß die Wahrheit hier zum Siege kam? Kam ihr wohl ein starker Irrthum zu Hülfe?
— hier bist du blind, denn hier hört deine Redlichkeit auf.
— sie liegen auf dem Bauche vor kleinen runden Thatsachen, sie küssen Staub und Koth zu ihren Füßen, sie frohlocken: hier ist endlich Wirklichkeit!