Herbst 1869 1 [1-114]
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Wer heutzutage von Aeschylus Sophocles Euripides spricht oder hört, der denkt unwillkürlich zunächst an sie als Litteraturpoeten, weil er sie aus dem Buche, im Original oder in der Übersetzung hat kennen lernen: dies ist aber ungefähr so als ob jemand vom Tannhäuser spricht und dabei das Textbuch und nichts mehr meint und versteht. Von jenen Männern soll also gesprochen werden, nicht als Librettisten: sondern als Operncomponisten. Doch weiss ich wohl, dass ich mit dem Worte “Oper” Ihnen eine Carrikatur in die Hand gebe: wenn auch nur wenige von Ihnen das zuerst zugeben werden. Vielmehr bin ich zufrieden, wenn Sie am Schlusse überzeugt sind, dass unsere Opern gegenüber dem antiken Musikdrama nur Carikaturen sind.
Characteristisch ist schon der Ursprung. Die Oper ist ohne sinnliche Vorlage, nach einer abstracten Theorie entstanden, mit dem bewussten Willen, hiermit die Wirkungen des antiken Drama’s zu erzielen. Sie ist also ein künstlicher homunculus, in der That der bösartige Kobold unserer Musikentwicklung. Hier haben wir ein warnendes Beispiel, was die directe Nachäffung des Alterthums schaden kann. Durch solche unnatürliche Experimente werden die Wurzeln einer unbewussten, aus dem Volksleben herauswachsenden Kunst abgeschnitten oder mindestens arg verstümmelt. Beispiele bietet die Entstehung des französischen Trauerspiels, das von vorn herein ein gelehrtes Product ist und die Quintessenz des Tragischen, ganz rein, in begrifflicher Abgezogenheit enthalten sollte. Auch in Deutschland ist seit der Reformation die natürliche Wurzel des Dramas, das Fastnachtsspiel untergraben worden: auf rein gelehrtem Wege wird bis auf die klassische Periode, und diese mit eingeschlossen, eine Neuschöpfung versucht. [Vgl. Karl Moritz Rapp, Studien über das englische Theater. Tübingen: Laupp, 1862, 32: “Da deutsche Fastnachtspiel fußte noch auf dem gemeindeutschen Volksboden, durch die Reformazion wurde dieser untergraben; nun wurden zu einer dramatischen Poesie, wie in Frankreich, von Gelehrten isolierte Versuche gemacht ohne realen Boden, und so bis auf Lessing; ...”] Hier haben wir zugleich einen Beleg dafür, dass auch in einer verfehlten und unnatürlich erwachsenen Kunstgattung, wie es das Schiller-Göthe’sche Drama ist, ein so unverwüstlicher Genius wie der deutsche sich Bahn bricht: dasselbe was die Geschichte der Oper erkennen lässt. Wenn die in der Tiefe schlummernde Kraft wahrhaft allmächtig ist, so überwindet sie auch solche fremdartige Einmischungen: unter dem mühsamsten, oft selbst convulsivischen Ringen kommt die Natur, freilich sehr spät, zum Siege. Will man aber kurz beschreiben, was der überschwere Harnisch ist, unter dem alle modernen Künste so oft zusammenbrechen und so langsam und abirrend vorwärtsschreiten: so ist dies die Gelehrsamkeit, das bewusste Wissen und Vielwissen. Bei den Griechen gehen die Anfänge des Dramas in die unbegreiflichen Äusserungen von Volkstrieben zurück: in jenen orgiastischen Festfeiern des Dionysos herrschte ein solcher Grad von Ausser-sich-sein—von §6FJ"F4l dass die Menschen sich wie Verwandelte und Verzauberte geberdeten und fühlten: Zustände, die auch dem deutschen Volksleben nicht fern geblieben sind, nur dass sie nicht zu solcher Blüthe sich aufgeschlossen haben: wenigstens erkenne ich in jenen S. Johann- und Veitstänzern, die in ungeheurer immer wachsender Masse tanzend und singend von Stadt zu Stadt zogen, nichts anderes als eine solche Dionysische Schwärmbewegung, mag man immerhin in der heutigen Medicin von jener Erscheinung als von einer Volksseuche des Mittelalters sprechen. Aus einer solchen Volksseuche ist das antike Musikdrama erblüht: und es ist das Unglück der modernen Künste, nicht aus solchem geheimnissvollen Quell zu stammen.