Herbst 1869 1 [1-114]
1 [49]
Was thut die Musik? Sie löst eine Anschauung in Willen auf.
Sie enthält die allgemeinen Formen aller Begehrungszustände: sie ist durch und durch Symbolik der Triebe, und als solche in ihren einfachsten Formen (Takt, Rhythmus) durchaus und jedermann verständlich.
Sie ist also immer allgemeiner als jede einzelne Handlung: deshalb ist sie uns verständlicher als jede einzelne Handlung: die Musik ist also der Schlüssel zum Drama.
Die Forderung der Einheit, unberechtigt wie wir sahen, ist die Quelle aller Verkehrtheiten der Oper und des Liedes. Man sah die Unmöglichkeit nun die Einheit des Ganzen herzustellen: jetzt schritt man dazu, die Einheit in die Stücke zu legen und das Ganze in lauter auseinanderlegbare absolute Stücke zu zerstückeln.
Parallel geht der Schritt des Euripides, der auch in das Einzelstück des Dramas die Einheit legt.
Das griechische Musikdrama ist eine Vorstufe der absoluten Musik, eine Form in dem ganzen Prozeß. Die lyrisch-musikalischen Partien sind zunächst allgemeinen beschaulich-objektiven Inhalts: Leiden und Freuden, Triebe und Verabschiedungen aller darstellend. Der Anlaß hierzu wurde vom Dichter imaginirt : weil er keine absolute Musik und Lyrik kannte. Er fingirte einen vergangenen Zustand, in dem diese oder jene allgemeine Stimmung ihren lyrisch-musikalischen Ausdruck verlangte. Dies mußte ein Zustand verwandter anheimelnder Wesen sein: nichts ist aber verwandter als die mythische Welt, eine Spiegelung unsrer allgemeinsten Zustände in einer idealen und idealisirenden Vergangenheit gesehn. Hiermit behauptet also der Dichter die Allgemeinheit der musikalisch-lyrischen Stimmungen für alle Zeiten, d. h. er thut einen Schritt zur absoluten Musik.
Dies ist die Grenze der antiken Musik: sie bleibt Gelegenheitsmusik, d. h. man nimmt an, es gebe bestimmte musikalische Zustände und wiederum unmusikalische Zustände. Der Zustand, in dem der Mensch singt, galt als Maßstab.
Auf diese Weise erhielt man zwei Welten nebeneinander, die ungefähr miteinander alternirten, so daß die des Auges verschwand, wenn die des Ohres begann und umgekehrt. Die Handlung diente nur, um zum Leiden zu kommen, und der Ausguß des Pathos machte wieder eine neue Handlung nöthig. Die Konsequenz war, daß man nicht die Vermittlung der beiden Welten, sondern ihre scharfe Gegenüberstellung suchte: hatte man dem Gemüth sein Reich abgesteckt, so sollte nun auch der Verstand zu Rechte kommen; Euripides führte die Dialektik, den Ton der Gerichtshalle, ein in den Dialog.
Wir sehen hier die ärgerliche Konsequenz: trennt man Gemüth und Verstand, Musik und Handlung, Intellekt und Willen unnatürlich von einander, so verkümmert jeder abgetrennte Theil. Und so entstand die absolute Musik und das Familiendrama, aus dem auseinandergerissenen Musikdrama der Alten.