Herbst 1873 - Winter 1873-74 30 [1-38]
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Was ist Beredsamkeit?
Sich verständlich machen? Doch das will auch der Maler, die Hieroglyphe, die Gebärde.
Sich durch Worte verständlich machen?
Geschriebene oder gesprochne macht keinen Unterschied hinsichtlich der Definition.
Aber da fällt Poesie und Prosa hinein. Nun giebt es auch in der Poesie Rhetorik, aber Poesie ist nicht ein Theil der Rhetorik.
Aber verständlich machen? Es ist doch nicht der Appell an den Verstand allein? Es giebt doch keine Rhetorik in der Mathematik.
Den fremden Intellect und Willen durch Worte erregen?
Aber das thut auch der Hitzkopf, der Betrunkene.
Mit Besonnenheit dies thun?
Aber dies thut auch der Betrüger, der Lügner. Ist es möglich, die Moralität mit in der Definition zu berücksichtigen? Keine Vorschrift sich zu verstellen.
Mit künstlerischer Besonnenheit dies thun?
Doch dies thut auch der Schauspieler und ist doch kein Redner (auch wenn er den Redner spielt, ist er noch etwas Anderes als der wirkliche Redner).
Aber der Zweck ist doch kein künstlerischer?
Nur das Mittel? Zu erinnern an die Baukunst.
Durch Worte mit künstlerischer Besonnenheit zu bewirken, dass jemand über eine Sache so denkt und fühlt wie man will.
Aber gehört das “Erreichen” zur Definition?
Nein. Auch wenn das Ziel nicht erreicht wird, ist immer noch Rhetorik da.
Der Redner bemüht sich, durch Anwendung von Worten und Gebärden, mit künstlerischer Besonnenheit, die von ihm Angeredeten denken und fühlen zu lassen, was er will.
Doch will man dies nicht auch in der Dialektik?
Wie wirkt man mit Worten auf den Verstand?
Wie auf das Gefühl?
Was unterscheidet den Redner vom leidenschaftlichen Sprecher, was vom Betrüger? Vom Schauspieler?
Im Grunde ist Dichter und Redner eins. Der spätere Unterschied ist welcher?
Ist es eine Kunst, eine Fertigkeit? Gewiss der Redner ist ein Künstler. Aber die frühesten Redner wissen nichts von Kunst? Sie haben sie als lebendige Praxis ererbt.
Das Wichtigste ist: Aufstellung des Themas.
Dann: Gliederung Zeichnung Architectur.
Dann: Colorit Ornamentik etc.
Der Redner im Gegensatz zum wissenschaftlichen Menschen.
Die Anwendung der Stratagemata der Dialectik auf die Rede.