Herbst 1873 - Winter 1873-74 30 [1-38]
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Die Heerde weidet an dem Menschen vorüber: sie weiss nicht was gestern und heute ist, springt umher frisst ruht verdaut springt wieder und so vom Morgen bis zur Nacht und von Tag zu Tage, kurz angebunden mit ihrer Lust und Unlust, nämlich an den Pflock des Augenblicks und desshalben weder verdrossen noch überdrüssig. Dies zu sehen geht dem Menschen hart ein, da er des Thieres sich überhebet und doch nach seinem Glück trachtet; denn das will er, weder überdrüssig noch traurig leben, gleich dem Thier: und will es doch umsonst und ohne Hoffnung.
[Vgl. Giacomo Leopardi, Nachgesang eines Hirten in Asien. In: Gedichte. Verdeutscht in den Versmaßen des Originals von Robert Hamerling. Hildburghausen: Verl. d. Bibliogr. Instituts, 1866:94.]Ach wie muss ich dich beneiden!
Nicht nur, weil frei du scheinest
Beinah von allen Leiden, —
Mühsal, Verlust, die schlimmste
Beängstigung im Augenblick vergessend —
Mehr noch weil nie der Überdruss dich quält!
Wir seufzen über uns, dass wir das Vergangne nicht los werden können und seine Kette immerfort nachschleppen müssen; während es uns scheinen will als ob das Thier glücklich sei, weil es nicht überdrüssig wird, sofort vergisst und fortwährend den erlebten Augenblick in Nebel und Nacht zurückweichen sieht. So geht es auf in der Gegenwart, wie eine Zahl in einer anderen ohne Rest aufgeht und erscheint ganz und gar als das, was es in jedem Moment ist, ohne alle Schauspielerei und absichtliches Verbergen. Wir dagegen leiden alle an dem dunklen und unauflöslichen Reste des Gewesenen und sind etwas anderes als was wir zu sein scheinen: so dass es uns mit der Empfindung des verlornen Paradieses ergreift, die weidende Heerde oder, in vertrauterer Nähe, das Kind zu sehen, das in allzukurzer und allzuseliger Blindheit zwischen den beiden Thoren der Vergangenheit und Zukunft spielt. Wer möchte sein Spiel stören und es aus der Vergessenheit herauf rufen! Wir wissen ja, dass mit dem Worte “es war” der Kampf und das Leiden beginnt und das Leben als ein nie vollendetes Imperfectum inaugurirt wird: wenn zuletzt der Tod das ersehnte Vergessen bringt, aber die Gegenwart und das Dasein selbst dabei unterschlägt, so drückt er eben damit das Siegel auf jene Erkenntniss—dass nämlich das Dasein nur ein continuirliches Gewesensein, ein ewiges Imperfectum ist, ein Ding, das sich fortwährend selbst widerspricht, sich verneint und aufzehrt.
Wir müssen also das Vergangne betrachten und erleiden—das ist nun einmal Menschenloos. Unter diesem harten Joche hart zu werden soll keinem erspart sein; und wenn Einer sehr hart geworden ist, bringt er es vielleicht so weit, das Menschenloos sogar wegen jenes Nicht-Vergessen-Könnens zu preisen, eben deshalb, weil das Vergangne in uns nicht sterben kann und uns wie ein eingeimpfter fremder Tropfen Blutes rastlos weiter treibt, die ganze Stufenleiter alles dessen hinauf, was die Menschen gross erstaunlich unsterblich göttlich nennen.
Müssen wir aber das Vergangne betrachten, so giebt es jedenfalls noch eine Wahl zwischen zwei verschiedenen Arten, sich mit ihm zu schaffen zu machen, die ich klärlich und rund als die historische und die unhistorische bezeichnen will: nur möge man nicht meinen, dass die erstere mit diesem Namen gelobt oder etwa gar dass ich die andere, die unhistorische mit dem ihrigen getadelt haben wolle. Was wäre dies anderes als eine Verwechslung der unhistorischen Art mit der schlecht historischen, unter der aber doch nur die historische Betrachtungsart im Zustande der Unreife oder der Entartung verstanden werden darf. Sondern jene ist sui generis und sui juris; und zwar hat sie ein eben so gutes Recht als die historische, obschon die einzelnen Zeiten und Völker, je nachdem sie in der einen oder der anderen befangen sind, immer nur eine von beiden Arten gelten lassen, die andere gar nicht begreiflich finden und höchstens als ein Curiosum stehen lassen; wie zum Beispiel unserer Gegenwart die unhistorische Betrachtungsart im Ganzen und Grossen fremd und unverständlich ist und deshalb als verwerflich oder mindestens als ein wenig verrückt zu gelten pflegt. Fragen Sie sich selbst, fordert uns David Hume auf, oder jeden ihrer Bekannten, ob sie die letzten zehn oder zwanzig Jahre ihres Lebens noch einmal zu durchleben wünschen. Nein! Aber die nächsten zwanzig werden besser sein, sagen sie —
[Vgl. John Dryden, Aureng-Zebe. In: David Hume, Gespräche über natürliche Religion. Nach der zweiten englischen Ausgabe. Nebst einem Gespräch über den Atheismus von Ernst Platner. Leipzig: Weygand, 1781:174.]“And from the dregs of life hope to rec[e]ive,
What the first sprightly running could not give.”
Die, welche so antworten, sind die Historischen; der Blick in die Vergangenheit drängt zur Zukunft hin, feuert den Muth an, es noch länger mit dem Leben aufzunehmen, entzündet die Hoffnung, dass das Rechte noch komme, dass das Glück hinter dem Berge sitze, auf den wir zuschreiten. Denn die historischen Menschen glauben, dass der Sinn des Daseins im Processe liege, sie schauen nur deshalb rückwärts, um an der Betrachtung des bisherigen Processes die Gegenwart verstehen und die Zukunft heftiger begehren zu lernen. Jene Frage aber, deren erste Beantwortung wir gehört haben, kann auch einmal anders beantwortet werden: zwar im Resultat vielleicht wiederum mit einem Nein! Wir wollen die zehn Jahre nicht zum zweiten Male durchleben. Aber mit welcher Begründung? Mit der Begründung des un(über)historischen Menschen, welcher nicht im Processe das Heil sieht, sondern an jedem Menschen und jedem Erlebniss und wiederum in jedem durchlebten Zeitraum, in jedem Tage, an jeder Stunde zu erkennen meint, wozu überhaupt gelebt wird: so dass für ihn die Welt in jedem einzelnen Augenblicke fertig ist und ihr Ende erreicht. Was können zehn neue Jahre lehren, was die 10 alten, wenn sie noch einmal durchlebt würden, nicht bereits zu lehren vermochten! Ob nun der Sinn der Lehre Glück oder Resignation oder Tugend oder Busse ist, darüber sind die unhistorischen Menschen mit einander nie einig geworden, aber allen historischen Behandlungsarten des Vergangnen entgegen kommen sie zur vollen Einmüthigkeit des Satzes: das Vergangne und das Gegenwärtige ist eins und dasselbe, nämlich in aller Mannichfaltigkeit gleich und als Allgegenwart unvergänglicher Typen ein stillstehendes Gebilde von unverändertem Werthe und ewig gleicher Bedeutung. Wie die Hunderte verschiedener Sprachen denselben typisch festen Bedürfnissen des Menschen entsprechen, so dass einer, der diese Bedürfnisse verstände, aus allen Sprachen nichts Neues zu lernen vermöchte: so erleuchtet sich der unhistorische Mensch alle Geschicke der Völker und der Einzelnen von innen heraus, hellseherisch den Ursinn der wechselnden Hieroglyphen errathend und allmählich sogar der immer neu hinzuströmenden Zeichenschrift ausweichend: denn wie sollte er es, im unendlichen Überfluss des Geschehenden, nicht zur Sättigung bringen!
Solche Betrachtungsart ist bei uns selten und anstössig, denn wir fordern gerade Unersättlichkeit in der Betrachtung des Geschehenden und nennen die Völker, die mit diesem unersättlichen Drange weiter leben und, wie man sagt, immer “fortschreiten,” im ehrenden Sinne die “geschichtlichen” Völker; ja wir verachten die andersgesinnten, z. B. die Inder, und pflegen uns ihre Art aus heissem Clima und allgemeiner Trägheit, vor allem aus der sogenannten “Schwäche der Persönlichkeit” abzuleiten: als ob unhistorisch leben und denken immer das Zeichen der Entartung und der Stagnation sein müsse. Es quält unsre Gelehrten, mit der Herstellung einer indischen Geschichte so gar nicht fertig werden zu können: sie werden selber um ihre Ableitung der Litteraturgattungen nach occidentalischem Schema misstrauisch und zweifeln selbst in solchen Allgemeinheiten, ob z. B. eine so mächtige und ausgebildete Philosophie wie die Sankhya-Philosophie vor- oder nach-buddhaistisch sei: solcher Zweifel und Misserfolge wegen rächen sie sich dann durch jene Missachtung an so querköpfigen trägen und stagnirenden Völkern. Die historischen Menschen merken nicht, wie unhistorisch sie sind und wie auch ihre Beschäftigung mit der Geschichte nicht im Dienste der Erkenntniss, sondern des Lebens steht. Vielleicht betrachten hinwiederum die Inder unsre Gier nach dem Geschichtlichen und unsre Schätzung der “geschichtlichen” Völker und Menschen als ein occidentalisches Vorurtheil, oder sogar als eine Krankheit der Köpfe: “haben nicht so unhistorisch wie wir—werden sie sagen, auch alle jene Männer gelebt, die selbst ihr die Weisen nennt? Oder war Plato kein unhistorischer Mensch? Um einmal von euren gerühmten Griechen nur Einen, und nicht ganze Generationen, gegen euch vorzuführen. Und glaubt ihr im Ernste, dass Jemand durch ein Jahrtausend geschichtlicher Dinge um einen tüchtigen Schritt der Göttin Weisheit näher kommen müsse, als ein andrer, der von allen diesen Dingen nichts erfahren hat? Vielleicht ist sogar eure jetzige Manier, Geschichte zu treiben und zu fordern, erst recht der Ausdruck der sogenannten ‘schwachen Persönlichkeit’; wenigstens scheint uns gerade an euren starken Persönlichkeiten, euren historischen Grössen, herzlich wenig von dem specifischen ‘historischen Sinn,’ von der ‘geschichtlichen Objectivität,’ von der zur Pflicht gewordnen Belehrtheit in Jahreszahlen, Schlachtennamen und Völkergeistern sichtbar zu werden: welche Eigenschaften zu verstecken sie doch keinen Grund hatten, da sie unter euch und nicht unter uns lebten.”
Doch lassen wir die Inder zanken: mögen sie weiser sein als wir, wir wollen aber heute einmal unserer Unweisheit recht froh werden und uns als den “Thätigen und Fortschreitenden” einen guten Tag machen. Denn es soll über den Nutzen der Historie nachgedacht werden und zwar darüber, ob wir bereits den grösstmöglichen Nutzen, der von ihr zu gewinnen ist, gewonnen haben. Es lebe das occidentalische Vorurtheil für das Historische: sehen wir nur zu, dass wir, bei dem Glauben an den Fortschritt, auch innerhalb jenes “Vorurtheils” fortschreiten, nämlich jedenfalls irgendwohin, wo wir noch nicht standen.
Den grösstmöglichen Nutzen werden wir aber aus der Historie nur dann ziehen können, wenn wir uns über den Schaden, den sie etwa zufügen könnte, so gut als möglich zu verständigen wissen. Denn wenn man an jeder hypertrophischen Tugend bekanntlich nicht nur leiden, sondern auch zu Grunde gehen kann, so wird es der Würde der Historie schwerlich Abbruch thun, zu wissen, dass sie auch schaden kann, ja dass es möglich ist an ihr zu leiden und zu Grunde zu gehen. Soll man sich nun deshalb vor der Hypertrophie jeder Tugend hüten? Soll man auf den Nutzen der Historie verzichten, weil man Gefahr läuft bei einiger Hypertrophie derselben an ihr zu leiden? Oder spornt es vielleicht sogar den Muthigen an, zu erkennen, dass man an ihr und in ihr untergehen kann? Ist zuletzt es nicht das Ziel jedes Heroismus, im Untergang den grösstmöglichen Gewinn zu finden? Entscheide man sich, wie man wolle, bezweifle man die Hypertrophie der Historie, leugne man überhaupt, dass Historie eine Tugend sei—man wird damit verrathen, wie weit und wie tief man denkt, ja ob man überhaupt denkt: inzwischen aber wollen wir darüber berathen, in wie fern die Historie (das heisst, mit Erlaubniss meiner Leser: jede Beschäftigung mit Geschichte) auch schaden kann.