Herbst 1873 - Winter 1873-74 30 [1-38]
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Es giebt zwei Maximen im Betreff der Erziehung: 1) man solle die Stärke eines Individuums bald erkennen und dann darauf hin alles richten, diese Stärke auf Kosten aller übrigen geringeren Kräfte auszubilden: so dass die Erziehung dann eben Leitung jener Kraft wird. 2) man solle alle vorhandenen Kräfte heranziehn und in ein harmonisches Verhältniss setzen, also die geringern, gerade der Überleitung [bedürftigen], kräftigen, die überstarken schwächen. Woran soll man nun einen Maassstab haben? Das Glück des Einzelnen? Der Nutzen, den er dem Gemeinwesen erweist? Die partiellen sind nützlicher, die harmonischen sind glücklicher. Sofort entsteht diese Frage von Neuem: eine grosse Gemeinschaft, ein Staat, ein Volk: soll es eine partielle Kraft besonders ausbilden oder viele Kräfte? Im ersten Falle wird der Staat die partielle Ausbildung der Individuen nur ertragen, wenn die partiellen Eigenschaften in seinem Ziele liegen, d. h. er wird nur einen Theil der Individuen nach ihrer Stärke erziehen, bei den andern wird er nicht mehr nach Stärke und Schwäche sehen, sondern dass die bestimmte Eigenschaft, sei sie ursprünglich noch so schwach, jedenfalls entwickelt werde. Will er eine Harmonie, so kann er dies immer noch auf zwei Weisen: entweder durch harmonische Ausbildung aller Individuen, oder eine Harmonie der partiell ausgebildeten Individuen. Im letzten Falle wird er aus lauter widerstreitenden machtvollen Kräften eine Temperatur erzeugen, d. h. er muss die Stärken in ihrer partiellen Ausschliesslichkeit abhalten von der Feindseligkeit gegen einander, von der gegenwärtigen Zerstörung, er muss alle binden durch ein gemeinsames Ziel (Kirche, Staatsglück usw.).
Der letzteren Art ist Athen, der ersteren Sparta. Die erstere Art ist viel schwieriger und künstlicher, sie ist der Entartung am meisten ausgesetzt, sie bedarf eines überwachenden Arztes.
In unserer Zeit ist alles wüst und unklar. Der moderne Staat wird immer spartanischer. Es wäre möglich, dass die grössten und edelsten Kräfte durch Verkümmern und Überleiten versiegen und absterben. Denn ich bemerke, dass gerade die Wissenschaften und die Philosophie selbst dies vorbereiten. Sie sind keine Bollwerke mehr, weil sie kein eignes Ziel mehr haben dürfen: d. h. weil kein Gemeinwesen ihr Wesen mit in sein Ziel aufnimmt. So wäre denn geboten die Gründung eines Kulturstaates im Gegensatz zu den lügnerischen, die sich jetzt so nennen, als einer Art von Refugium der Kultur.