Herbst 1873 - Winter 1873-74 30 [1-38]
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Das Glück des Einzelnen im Staate wird untergeordnet dem Gesammtwohl: was heisst das? Nicht dass die Minoritäten benutzt werden zum Wohle der Majoritäten. Sondern dass die Einzelnen dem Wohle der höchsten Einzelnen untergeordnet werden, dem Wohle der höchsten Exemplare. Die höchsten Einzelnen sind die schöpferischen Menschen, sei es die besten moralischen oder sonst im grossen Sinne nützlichen, also die reinsten Typen und Verbesserer der Menschheit. Nicht die Existenz eines Staates um jeden Preis, sondern dass die höchsten Exemplare in ihm leben können und schaffen können, ist das Ziel des Gemeinwesens. Das liegt auch der Entstehung der Staaten zu Grunde, nur dass man oft eine falsche Meinung hatte, was die höchsten Exemplare seien: oft die Eroberer usw. Dynasten. Ist die Existenz eines Staates nicht mehr zu erhalten, so dass die grossen Individuen in ihm nicht mehr leben können: so entsteht der schreckliche Noth- und Raubstaat: wo die stärksten Individuen sich an Stelle der besten setzen. Aufgabe des Staates nicht dass möglichst viele darin gut und sittlich leben: auf die Zahl kommt es nicht an: sondern dass überhaupt in ihm gut und schön gelebt werden könne: dass er die Basis einer Kultur abgäbe. Kurz: die edlere Menschlichkeit ist das Ziel des Staates, sein Zweck liegt ausser ihm, er ist Mittel.
Jetzt fehlt das, was alle partiellen Kräfte bindet: und so sehen wir alles feindselig gegen einander und alle edlen Kräfte in gegenseitigem aufreibendem Vernichtungskrieg. Dies soll an der Philosophie gezeigt werden: sie zerstört, weil sie durch nichts in Schranken gehalten wird. Der Philosoph ist zu einem gemeinschädlichen Wesen geworden. Er vernichtet Glück Tugend Kultur, endlich sich selbst.— Sonst muss sie ein Bündniss der bindenden Kraft sein, als Arzt der Kultur.