März 1875 3 [1-76]
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Wenn man von der Gesinnung und Gesittung des katholischen Mittelalters aus nach den Griechen hinschaut, da strahlen sie freilich im Glanze der höheren Humanität: denn alles, was man ihnen vorwerfen wird, muss man in viel höherem Maasse dem Mittelalter selber vorwerfen. So ist die Verehrung der Alten in der Renaissance-Zeit ganz ehrlich und recht. Nun haben wir in Einigem es noch weiter gebracht, gerade auf Grund jenes erwachenden Lichtstrahls. Wir haben in der Aufhellung der Welt die Griechen überholt, durch Natur- und Menschengeschichte, und unsere Kenntnisse sind viel grösser, unsere Urtheile mässiger und gerechter. Auch eine mildere Menschlichkeit ist verbreitet, dank der Aufklärungszeit, welche den Menschen geschwächt hat—aber diese Schwäche nimmt sich, in’s Moralische umgewandelt, sehr gut aus und ehrt uns. Der Mensch hat jetzt sehr viel Freiheit, es ist seine Sache, dass er sie so wenig gebraucht; der Fanatismus des Meinens ist sehr gemildert. Dass wir zuletzt doch lieber in dieser als in einer andren Zeit leben wollen, ist wesentlich das Verdienst der Wissenschaft, und gewiss gab es für kein Geschlecht eine solche Summe von edlen Freuden, wie für unseres—wenn auch unser Geschlecht gerade nicht den Magen und Gaumen hat, viel Freude empfinden zu können.— Nun lebt es sich bei aller dieser “Freiheit” nur gut, wenn man eben nur begreifen, nicht mitmachen will—das ist der moderne Haken. Die Mitmachenden erscheinen weniger reizvoll als je; wie dumm müssen sie sein!
So entsteht die Gefahr, dass das Wissen sich an uns räche, wie sich das Nichtwissen während des Mittelalters an uns gerächt hat. Mit den Religionen, welche an Götter, an Vorsehungen, an vernünftige Weltordnungen, an Wunder und Sakramente glauben, ist es vorbei, auch bestimmte Arten von heiligem Leben, von Askese sind vorbei, weil wir leicht auf ein verletztes Gehirn und auf Krankheit schliessen. Es ist kein Zweifel, der Gegensatz von einer reinen unkörperlichen Seele und einem Leibe ist fast beseitigt. Wer glaubt noch an eine Unsterblichkeit der Seele! Alles Segensvolle und Verhängnissvolle, was somit auf gewissen irrthümlichen physiologischen Annahmen beruhte, ist hinfällig geworden, sobald diese Annahmen als Irrthümer erkannt sind. Das was nun jetzt die wissenschaftlichen Annahmen sind, lässt ebensowohl eine Deutung und Benutzung in’s Verdummend-Philisterhafte, ja in’s Bestialische zu, als eine Deutung in’s Segensreiche und Beseelende. Unser Fundament ist neu gegen alle früheren Zeiten, deshalb kann man vom Menschengeschlecht noch etwas erleben.— In Betreff der Cultur heisst dies: wir kannten bisher nur eine vollkommene Form, das ist die Stadtkultur der Griechen, auf ihren mythischen und socialen Fundamenten ruhend, und eine unvollkommene, die römische, als Dekoration des Lebens, entlehnend von der griechischen. Jetzt haben sich nun alle Fundamente, die mythischen und die politisch-socialen verändert; unsere angebliche Cultur hat keinen Bestand, weil sie sich auf unhaltbare, fast schon verschwundene Zustände und Meinungen aufbaut.— Die griechische Cultur vollständig begreifend sehen wir also ein, dass es vorbei ist. So ist der Philologe der grosse Skeptiker in unseren Zuständen der Bildung und Erziehung: das ist seine Mission.— Glücklich, wenn er, wie Wagner und Schopenhauer, die verheissungsvollen Kräfte ahnt, in denen eine neue Cultur sich regt.