Herbst 1880 6 [301-461]
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Alle Triebe ursprünglich relativ zweckmäßig in ihrer Wirkung (“gut” und “böse”). Moral ensteht a) wenn ein Trieb über andere dominirt z. B. Furcht vor einem Gewaltigen oder Trieb zum geselligen Leben. Da müssen schwächere Triebe gespürt, aber nicht befriedigt werden. Die Antworten auf das hier entstehende Warum? sind so roh und falsch wie möglich, aber sie sind Anfang moralischer Urtheile, einen Werthunterschied der Handlungen zwischen nöthig zulässig unzulässig festsetzend. Einen Trieb haben und vor seiner Befriedigung Abscheu empfinden ist das “sittliche” Phänomen. Oder z. B. die Liebe zu den Jungen zum Eigenthum, derentwegen man selber hungert, sich Gefahren aussetzt. Junge und Eigenthum sind etwas so Angenehmes: aber wenn man Gründe wollte, so genügte dies nicht zu sagen “sie sind angenehm”—die Vernunft der Moral ist das Bemühen, die Instinkte zu übersehen und uns den Schein zu geben als ob wir nach Zwecken handelten, also unser Bestes wollten. Thatsächlich ist das Angenehme meistens unser Bestes, aber dies Beste vermochte man nicht zu erfassen, dazu hatte man die Kenntnisse der Natur und des Menschen nicht. Man construirte ein Bestes nach seiner Annahme über Natur und Mensch. Dazu gehört z. B. das Heil der Seele. Oder die Ehre. Oder die Gebote eines Gottes. Der Mensch affektirt überall nach Zwecken zu handeln—diese große Komödie geht durch, er thut “verantwortlich.” Aber zu den Motiven der Instinkte kommen die Zweckbegriffe hinzu und hinterdrein und treffen fast nie den bewegenden Punkt. Die menschliche Maschine würde fast stille stehen, falls sie einmal nur von den vermeintlichen Motiven geleitet werden sollte. Auch jetzt noch ist die Täuschung sehr groß.