Herbst 1880 6 [301-461]
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Die Thatsache war, daß im griechisch-römischen Alterthum der Mensch an seinen Leidenschaften wie an seinen unrechten Handlungen nicht intensiv genug litt, es war zumeist das Leiden von der Art, wie man sagt “wie dumm war ich, dies zu thun!” Etwas dem Sündengefühle Ähnliches konnte nur bei Philosophen entstehen, auf Grund von der reinen göttlichen Seele und deren Verunreinigungen: nicht nur eine Dummheit und ein wirklicher Nachtheil, sondern ein Gefühl der Erniedrigung und Beschmutzung, eine Beleidigung einer erhabenen Vorstellung von uns. Seine Meinung über die Leidenschaften und das Böse verstörte den Philosophen, nicht so sehr die üblen Folgen. Aber alles ging auf Einem Gleise vorwärts in dieser Richtung, das Christenthum brachte den stärksten Ausdruck, indem es die wirklichen Folgen ganz außer Acht ließ und beinahe als indifferent behandelte. Also die Wirkung des Handelns selber für das Organ des Handelns. Das Ideal Epiktets: sich selber wie einen Feind und Nachsteller immer im Auge haben: der kriegerische Einsiedler, der ein kostbares Gut zu vertheidigen und vor Verderbniß zu wahren hat, nachdem er es errungen hat. Nicht auf die Menschen giebt er Acht, er glaubt sie zu kennen, er hat von dem Interesse des Individuellen keine Ahnung: sie sind die Schatten, das Wahre in ihnen sind ihre Gedanken und Triebe, welche er philosophisch rubrizirt hat. In dieser Geisterwelt lebt er und kämpft seinen Kampf. Er hat nur Freude als Krieger. Ebenso hat das Christenthum keinen Genuß am Menschen. Wir aber rechnen ihn wieder zur Natur und genießen die Natur: wir sind nicht nur gerecht gegen alle Natur, wir finden sie reich, erstaunlich, unerkannt, forschungswürdig. Der Roman und die psychologische Beobachtung aus Lust am Menschen ist unser! Wir verzeihen uns viel mehr, wir verachten uns viel weniger, wir wünschen vieles nicht weg, wenn wir gleich gelegentlich daran leiden. Wir mögen die entsetzliche Simplifikation des tugendhaften Menschen nicht: so wenig wir nur fruchtbare Felder wollen.